Auszüge aus Büchern und Vorlesungen von Steiner zum Thema Noten und Zeugnisse

GA 81 Erneuerungs-Impulse für Kultur und Wissenschaft

1922

Seite 87

Ich will nur eines erwähnen. Es ist ja heute in verschiedener Beziehung auch im heutigen öffentlichen Unterricht manches besser geworden. Allein, Sie wissen alle, daß während des ganzen Schuljahres das Kind eigentlich mehr als es eurem gewöhnlich bewußt wird, unter dem System leidet, das die Fortschritte des Kindes beurteilt. Da gibt es auf der einen Seite die kindlichen Leistungen, auf der anderen Seite die Beurteilungen dieser Leistungen durch den Lehrer; die werden so ausgedrückt: «befriedigend», «fast befriedigend», «fast kaum befriedigend», «minder befriedigend» und so weiter. Ich muß Ihnen offen gestehen: Ich war eigentlich nie fähig, einen Unterschied einzusehen zwischen «fast befriedigend», «fast nicht befriedigend» und dergleichen. Bei uns in der Waldorfschule handelt es sich darum, daß aus der Ge­samtheit der Fortschritte heraus am Ende des Schuljahres dem Kinde eine Art Zeugnis übergeben wird, in dem der Lehrer individuell das Kind charakterisiert, indem er einfach das, was er an dem Kinde erlebt hat, auf ein Stück Papier schreibt. Das Kind sieht so eine Art Spiegelbild seiner selbst, und die Praxis hat gezeigt, daß es dieses Spiegelbild – worauf nicht «befriedigend», «minder befriedigend» und so weiter für die einzelnen Gegenstände steht – mit einer gewissen inneren Befriedigung und Freude aufnimmt, selbst wenn darin Tadel stehen. Und dann bekommt das Kind eine Art Kraftspruch mit, der gerade aus seiner Natur geholt ist, den es sich dann aneignet, und der ihm ein Leitspruch für das nächste Jahr sein kann. – So kann man, wenn man die Liebe dazu hat, auf das Lebendige einzugehen, den Unterricht selbst unter ungünstigen Verhältnissen lebendig gestalten.

[…]

Ja, bis zum 20. Jahrhundert herauf hat sich der Intellektualismus in der Menschheit bis zu einem Kulminationspunkt entwickelt. Dieser Intellektualismus hat aber die Eigentümlichkeit, daß er – geradeso wie das Nachahmungsprinzip oder das Autoritätsprinzip – erst in einem bestimmten Lebensalter des Menschen aus einem latenten in einen freien Zustand versetzt wird, und das ist beim Intellektualismus in einem verhältnismäßig späten Lebensalter der Fall. Wir sehen, wie der Mensch eigentlich erst, wenn er die Geschlechtsreife überwunden hat, eigentlich sogar noch später, aus seiner elementaren Natur heraus geeignet wird, zum Intellektualistischen fortzuschreiten. Vorher wirkt das Intellektualistische auf seine Seelentätigkeit durchaus ablähmend, abtötend.

Daher können wir sagen: Wir leben in einem Zeitalter, das eigentlich nur für den erwachsenen Menschen da ist, das als den wichtigsten Kulturimpuls etwas hat, was erst im erwachsenen Menschen voll zum Ausdruck kommen sollte. Das aber hat zur Folge, daß wir heute mit dem, was in bezug auf die ganze Kultur für die erwachsenen Menschen gerade tonangebend ist, eigentlich das Kind und selbst den jungen Menschen nicht mehr verstehen!

Das ist das wichtigste, was in unserer Zivilisation zu berücksichtigen ist. Wir müssen uns darüber klar sein, daß wir gerade durch diejenigen Kräfte, durch die wir unsere Wissenschaften und unsere Technik zu so großen Triumphen und so großer Blüte gebracht haben, uns die Mög-lichkeit nehmen, das Kindvoll zu verstehen und auf die volle Menschennatur des Kindes einzugehen. Es bedarf eben wieder eigener Mittel, um die Brücke zu dem jungen Menschen und dem Kinde herüber zu schlagen. Das, was jetzt in mannigfacher Gestalt als Jugendbewegung auftritt – man mag sich dazu verhalten, wie man will hat seine tiefste Berechtigung; sie ist nichts anderes als der Schrei der Jugend: Ihr Erwachsenen habt eine Zivilisation, die wir einfach nicht verstehen, wenn wir uns unserer elementarsten Natur hingeben! –

GA 255 Die Anthroposophie und ihre Gegner

1919-1921

Seite 197

Wir wollten das zeigen auf den verschiedensten Gebieten, zum Beispiel auf dem Gebiete des Schulwesens, in der Waldorfschule in Stuttgart, die von Emil Molt gegründet und von mir eingerichtet worden ist. Sie besteht seit mehr als einem Jahr. In dieser Waldorfschule in Stuttgart, da wird gezeigt, wie anthroposophische Weltanschauung praktisch in das Pädagogisch-Didaktische hineinwirken will. In dieser Waldorfschule handelt es sich wahrhaft nicht darum, die Kinder etwa in Anthroposophie aufzuziehen – die Waldorf-schule will keine Weltanschauungsschule sein, sondern es handelt sich darum, daß anthroposophische Geisteswissenschaft, weil sie unmittelbar untertaucht in die Wirklichkeit, pädagogisch geschickt machen kann, so daß das Pädagogische als solches von Geisteswissenschaft in einer gewissen Weise als eine pädagogisch-didaktische Kunst geschaffen wird. Und nach dieser Richtung hin hat das erste Schuljahr dieser Waldorfschule, ohne daß man damit renommieren will, schon einiges gebracht, von dem gesprochen werden darf. Vor allen Dingen haben wir in der Waldorfschule das gewöhnliche Zeugniswesen nicht. Wir haben in mancher Klasse eine recht große Schülerzahl schon im vorigen Jahr gehabt, aber trotzdem brauchen wir nicht jene merkwürdige Beziehung der Lehrer zu den Schülern, welche dadurch entsteht, daß der Lehrer herausfinden will, sagen wir unter zwanzig, dreißig, fünfzig Schülern, ob nun der eine oder der andere verdient in diesem oder jenem Gegenstand ein «fast genügend», «halb fast befriedigend» und dergleichen. Das alles, was in dieser Weise in ein abstraktes Schematisches hineingeht, das konnten wir vermeiden. Dafür, ich will dieses eine herausheben, konnten wir am Schlüsse des vorigen Schuljahres jedem einzelnen Kinde ein Zeugnis mitgeben, in dem das Kind etwas sehr Merkwürdiges fand: einen Lebensspruch fand es – einen Lebensspruch, der ganz und gar für die seelisch-geistige-physische Organisation des Kindes empfunden war. Auch in denjenigen Klassen, wo an

fünfzig Schüler oder darüber waren, konnten die Lehrer die Möglichkeit finden, so einzudringen, so unterzutauchen in die Individualitäten der Schüler, daß sie einen Kernspruch des Lebens ganz individuell, für das einzelne Kind angemessen in das Zeugnis hineinschreiben konnten. Dieses Zeugnis soll etwas sein, was nicht ein totes Papier ist, wo man mit «fast befriedigend» dies oder jenes einzelne beurteilt, sondern es soll etwas sein, woran sich das Kind erinnert mit einer gewissen Kraft, weil darinnen etwas steht, was, wenn es in seiner Seele wirkt, in ihm Leben werden kann. Ich wollte nur diesen einzelnen Punkt hervorheben. Ich könnte noch von vielem sprechen, was versucht worden ist, gerade an praktischer Betätigung aus anthroposophischer Geisteswissenschaft im Didaktischen durch diese Waldorfschule zu verwirklichen.

Nun, ich konnte ja hier auch schon öfter erwähnen, wie anthroposophische Geisteswissenschaft in einem bestimmten Zeitpunkte sich genötigt fand, die sozialen Folgerungen aus demjenigen zu ziehen, was aus ihrem praktischen Denken hervorgeht. Diese sozialen Folgerungen, sie sind zunächst gezogen in meinen «Kernpunkten der Sozialen Frage». Sie werden jetzt auch gezogen für praktische Einrichtungen. Über diese praktischen Einrichtungen schimpfen die Leute heute viel, weil sie gar keine Ahnung davon haben, wie die scheinbare Praxis, die aber in einer Welt von Illusionen lebt, gerade in die heutige Krise hineingeführt hat, und wie eine wirkliche Lebenspraxis aus einer Erneuerung des ganzen Denkens herausfließen muß. Es könnte einen, wenn es nicht auf der anderen Seite betrüblich wäre, eigentlich erheitern, wenn heute die Schulmeister der Praktik kommen und daran erinnern, daß man mit Idealismus und Zukunftsglauben nicht wirtschaften könne. Sie wissen nicht, daß es sich bei diesem Wirtschaften wirklich nicht um Idealismus und Zukunftsglauben handelt, sondern um ein unmittelbares Eingreifen in die Praxis mit einem Denken, das eben praktischer ist als dasjenige, das die letzten Jahrzehnte haben hervorbringen können.

GA 296 Die Erziehungsfrage als soziale Frage

Seite 34

Den allgemeinen Gottes-Begriff kann man bekommen, wenn man die Natur in ihren Erscheinungen verfolgt, wenn man das menschliche physische Wesen, so weit es äußerlich zu betrachten ist, verfolgt. Die Christus-Wesenheit ist so, daß man ihr nur nahekommt, wenn man im Lauf des irdischen Lebens etwas’in sich selber entdeckt. Den allgemeinen Gottes-Begriff kann man finden, indem man einfach sich sagt, man ist aus den Kräften der Welt zum Dasein gekommen. Den Christus-Begriff muß man finden in sich, indem man weiter kommt, als die Natur einen kommen läßt. Findet man, wenn man in der Welt lebt, nicht den Gottes-Begriff, dann ist dieses Nicht-finden des Gottes-Begriffes eine Art von Krankheit…

Christus nicht zu erkennen, ist nicht eine Krankheit, sondern ein Unglück, ist ein Versäumnis des Lebens. Dadurch, daß man sich besinnt auf das Geborenwerden aus der Natur und ihren Kräften heraus, kann man, wenn man mit gesunder Seele dieses Geborenwerden verfolgt, zum Gottes-Begriff kommen. Dadurch, daß man im Laufe des Lebens etwas erlebt wie eine Wiedergeburt, kann man zum Christus-Begriff kommen. Die Geburt führt zu Gott, die Wiedergeburt zu Christus. Zu dieser Wiedergeburt, durch welche der Christus als Wesenheit im Menschen gefunden werden kann, konnte der Mensch vor dem Mysterium von Golgatha nicht kommen. Und das ist der Unterschied, auf den ich Sie bitte Ihr Augenmerk zu richten: daß der Mensch vor dem Mysterium von Golgatha, weil der Christus noch nicht ausgeflossen war mit seiner Wesenheit in die Menschheit, nicht zu dieser Wiedergeburt kommen konnte, nicht erkennen konnte, daß in ihm der Christus lebt. Nach dem Mysterium von Golgatha kann das der Mensch. Er kann den Funken des Christus in sich selber finden, wenn er sich anstrengt durch sein Leben.

Und in dieser Wiedergeburt, in diesem Finden des Christus-Funkens in sich, in diesem aufrichtigen und ehrlichen Sich-sagen-Kön-nen: Nicht ich, sondern der Christus in mir, liegt die Möglichkeit, den Intellekt nicht in Täuschung und in das Böse verfallen zu lassen. Und das ist im esoterisch-christlichen Sinne der höhere Begriff der Erlösung. Wir müssen unsere Intelligenz ausbilden, denn wir können ja nicht unintelligent werden; aber wir stehen, indem wir anstreben unsere Intelligenz auszubilden, vor der Versuchung, dem Irrtum und ‘ dem Bösen zu verfallen. Wir können der Versuchung, dem Irrtum und dem Bösen zu verfallen, nur entgehen, wenn wir uns aneignen die Empfindung von dem, was das Mysterium von Golgatha in die Menschheitsentwickelung hineingebracht hat.

Es ist schon so, daß der Mensch in dem Christus-Bewußtsein, in dem Vereinigtsein mit dem Christus findet die Möglichkeit, dem Bösen, dem Irrtum zu entrinnen. Der ägyptisch-chaldäische Mensch brauchte die Wiedergeburt in Christo nicht, weil er noch die Verwandtschaft mit dem Kosmos durch seine naturgemäße Intelligenz fühlte. Der Grieche hatte im Grunde genommen den Ernst des Todes vor sich, wenn er seiner Intelligenz sich hingab. Jetzt lebt die Menschheit im Beginne eines Zeitalters, wo die Intelligenz böse werden würde, wenn die menschliche Seelenwesenheit sich nicht mit der Christus-Kraft durchdringen würde. Denken Sie einmal, das ist eine sehr ernste Sache. Das bezeugt, wie man nehmen muß gewisse Dinge, die sich in unserer Zeit ankündigen, wie man daran denken muß, daß in unserer Zeit die Menschen die Anlage bekommen zum Bösen, gerade weil sie einer höheren Ausbildung ihrer Intelligenz entgegengehen. Es wäre natürlich eine völlig falsche Spekulation, zu glauben, daß man etwa die Intelligenz unterdrücken soll. Die Intelligenz darf nicht unterdrückt werden, aber es gehört für den Einsichtigen in der Zukunft ein gewisser Mut dazu, der Intelligenz sich hinzugeben, weil die Intelligenz die Versuchung bringt zum Bösen und zum Irrtum und weil wir in der Durchdringung der Intelligenz mit dem Christus-Prinzip finden müssen die Möglichkeit, diese Intelligenz umzuwandeln. Ganz und gar ahrimanisch würde die Intelligenz der Menschen, wenn das Christus-Prinzip die Seelen der Menschen nicht durchdränge.

Sie wissen ja, wie vieles da ist, in der Entwickelung der Menschheit ersichtlich ist, besonders in der Gegenwart, von dem, was für den Einsichtsvollen schon zeigt, daß die Dinge sich so ankündigen, wie ich sie eben charakterisiert habe. Man denke nur, was das dritte von den Entwickelungsgliedern, die durch den Materialismus der Menschheit drohen, über die Menschen heute schon bringt. Sehen Sie, wenn Sie bedenken, mit wie viel Grausamkeiten die heutige Kulturentwickelung durchsetzt ist, die sich kaum vergleichen lassen mit den Grausamkeiten barbarischer Zeitalter, dann werden Sie kaum zweifeln können, daß sich die Morgenröte für den Abstieg der Intelligenz deutlich ankündigt. Man sollte nicht in oberflächlicher Weise die sogenannten Kulturerscheinungen unseres Zeitalters betrachten, man sollte wahrhaftig nicht daran zweifeln, daß die Menschen der Gegenwart sich aufraffen müssen zu einem wirklichen Erfassen des Christus-Impulses, wenn sie einer heilsamen Entwickelung entgegengehen wollen. Es ist zweierlei heute schon stark zu bemerken: Menschen, die sehr intelligent sind und die einen deutlichen Hang zum Bösen haben; und es ist auf der anderen Seite zu bemerken, wie viele Menschen unbewußt diesen Hang zum Bösen dadurch unterdrücken, nicht bekämpfen, daß sie ihre Intelligenz schlafen lassen. Schläfrigkeit der Seele oder aber bei wachen Seelen ein starker Hang zum Bösen und zum Irrtum, das ist in der Gegenwart durchaus zu bemerken.

Und nun erinnern Sie sich einmal, wie ich vor meiner letzten Abreise an einem Abend hier auseinandersetzte, wie anders die Kinder seit fünf bis sechs bis sieben, acht Jahren geboren werden heute, mit einem, man möchte sagen, melancholischen Anflug über den Gesichtern, der deutlich zu bemerken ist für denjenigen, der so etwas bemerken kann. Und ich habe gesagt: Das rührt davon her, daß die Seelen heute nicht gern heruntergehen in die von Materialismus erfüllte Welt. Man könnte sagen: Die Seelen haben vor ihrer Geburt eine gewisse Furcht und Angst, in die Welt einzutreten, in der die Intelligenz den Hang, die Neigung zum Bösen hat und in absteigender Entwickelung begriffen ist.

Das ist auch etwas, wovon ein Bewußtsein entwickelt werden muß bei denjenigen Menschen, die für die Menschenzukunft Erzieher und Unterrichter werden. Die Kinder sind heute anders, als sie waren vor Jahrzehnten. Das ergibt sich schon einer oberflächlichen Betrachtung sehr deutlich. Man muß sie anders erziehen und anders unterrichten, als man sie vor Jahrzehnten unterrichtet hat. Man muß mit dem Bewußtsein unterrichten, daß man eigentlich bei jedem Kinde eine Rettung zu vollziehen hat, daß man jedes Kind dahin bringen muß, im Lauf des Lebens den Christus-Impuls in sich zu finden, eine Wiedergeburt in sich zu finden.

Solche Dinge, sie lebt man da, wo man sie zum Beispiel nötig hat als Lehrer, als Erzieher, nicht aus, wenn man sie einfach nur theoretisch kennt; sie lebt man nur aus, man führt sie nur ein in die Erziehung, in das Unterrichten, wenn man in der Seele stark erfaßt ist von diesen Dingen. Von der Lehrerschaft insbesondere muß es gefordert werden, daß sie in ihrer Seele stark erfaßt wird von diesem Sorgenvollen für die Menschheit, welche Versuchung der Intellekt mit sich bringt! Der Stolz, den die gegenwärtige Menschheit auf den Intellekt entwickelt, dieser Stolz, er könnte sich schwer rächen an der Menschheit, wenn er nicht durch dasjenige abgelähmt würde, was ich eben auseinandergesetzt habe, wenn er nicht abgelähmt würde durch ein starkes, energisches Bewußtsein: das Beste in mir als Mensch dieser und der folgenden Inkarnationen ist, was ich in mir als den Christus-Impuls finde.

Nun muß man sich klar sein darüber, daß dieser Christus-Impuls nicht sein darf die Dogmatik irgendeiner Religionsgemeinschaft. Die Religionsgemeinschaften haben seit der Mitte des 15. Jahrhunderts in ihrer Entwickelung mehr beigetragen, den Christus-Impuls von der Menschheit zu entfernen, als ihn der Menschheit nahe zu bringen. Die Religionsgemeinschaften machen den Menschen allerlei vor; aber indem sie ihnen dies oder jenes vormachen, bringen sie sie dem Christus-Impuls nicht nahe. Notwendig ist, daß der Mensch fühlt, daß alles dasjenige, was sich ihm eröffnen und offenbaren kann in seinem Innern nach dem Mysterium von Golgatha hin, zusammenhängt mit dem, was für die Erde durch das Mysterium von Golgatha geworden ist. Empfindet man den Sinn der Erde in dem Mysterium von Golgatha, kann man sich aufraffen dazu, sich zu sagen: Die Entwickelung der Erde wäre sinnlos, wenn die Menschen durch ihre Intelligenz dem Bösen, dem Irrtum verfallen würden. Empfindet man so den Sinn des Mysteriums von Golgatha, dann empfindet man als sinnlos die Erdentwickelung ohne das Mysterium von Golgatha.

GA 298 Rudolf Steiner in der Waldorfschule

1919-1924

Seite 64

Nachher bekommt ihr das Zeugnis*; wer ein gutes Zeugnis bekommt, soll es nicht etwa als ein Anweisung zum Faulenzen betrachten, und wer ein schlechteres Zeugnis hat, braucht nicht gleich zu weinen, sondern soll denken: Ich werde mich im nächsten Jahre noch besser anstrengen.

Aus dem Geist der Waldorfschule sagt ihr euch heute und drückt den Lehrern die Hand, sagend: Wir wollen uns finden wiederum im Herbst, zu lernen Tüchtigkeit zur Arbeit, zu entwickeln die Seele zu starker Lebenskraft und aufzuwecken den Geist zu rechtem Menschentum.

So auf Wiedersehen!

*Nachher bekommt ihr das Zeugnis: Die Kinder erhielten anstelle von Notenzeugnissen am Ende des Schuljahres kurze Charakteristiken über ihr Verhalten und ihre Arbeitsweise.

GA 298, Rudolf Steiner in der Waldorfschule

1919-1924

Seite 85

Zwei weitere Fragen gingen dahin, ob die Schüler in der Waldorfschule das Abitur machen können und ob nicht doch Hausarbeiten aufgegeben werden könnten.

Dr. Steiner erwiderte darauf:

Wir haben ja durchaus das Prinzip, den Kindern nicht etwa die Möglichkeit zu nehmen, sich in das Leben, wie es heute einmal ist, hineinzustellen. Daher ist von mir selbst der Grundsatz aufgestellt worden, und der wird ja durchgeführt, insbesondere in den wichtigsten Punkten so gut es nur eben geht: Dasjenige was wir tun müssen von pädagogischen und didaktischen Gesichtpunkten aus, das muß damit vereinigt werden, daß das Kind auch so ins Leben hineingeführt wird, daß ihm äußerlich keine Schwierigkeiten erwachsen. Daher ist von mir ausgearbeitet worden eine Art von Lehrverfassung, die diesen beiden Dingen Rechnung trägt. Wir unterrichten ohne Rücksicht darauf, welche Lehrziele für die einzelnen Klassen in den anderen Schulen zunächst für die Kinder bis zum neunten Lebensjahr, bis zum Absolvieren der dritten Klasse aufgestellt sind. Nicht wahr, man muß einen gewissen Spielraum haben, damit man in ihm das, was aus einer wirklichen Erkenntnis der Bedürfnisse des Kindes folgt, und was eine wirkliche Pädagogik fordern muß, erfüllen kann. Dann, nach diesem Spielraum, kann man dem Rechnung tragen, was nun heute einmal aus allerlei Untergründen und Gesetzen heraus gefordert wird. Also im neunten Lebensjahr wollen wir das Kind soweit haben, daß es in jede andere Schule übertreten kann. Dann wiederum lassen wir uns Spielraum bis zum zwölften Jahr, damit wir für diese Zeit ordentlich Pädagogik treiben können. Im zwölften Jahr kann also wieder jedes Kind in eine andere Schule übertreten. Und so soll es auch wiederum sein nach dem fünfzehnten Lebensjahr und auch weiterhin bis zum Abitur. Wenn wir so glücklich sind, immer wieder eine Klasse auf die Schule aufsetzen zu können, und die Kinder bis zu dem Abitur zu bringen, so werden sie in dem Alter, wo sie sonst das Abitur machen, so weit sein, daß sie dieses Examen werden machen können. Es kann ja natürlich sein, daß irgendwo ein Examinator sitzt, der sagt: Die jungen Leute aus der Waldorfschule können selbstverständlich nichts. – Man kann jemand immer durchfallen lassen, wenn man will; man kann dem Dümmsten ein ausgezeichnetes Zeugnis geben und den Gescheiten durchfallen lassen. Für solche Fälle kann nicht gesorgt werden. Aber im Prinzip muß das statthaben, daß wir dasjenige, was wir besser machen können als draußen, besser machen, trotzdem wir keine Steine dem Kinde in den Weg legen in bezug auf die äußeren Lebensforderungen. Es ist dies allerdings doch ein Surrogat – besser wäre es, wenn wir auch Hochschulen einrichten könnten. Das kann eben nicht sein, daher müssen wir uns auf diesem Gebiete mit einem Surrogat begnügen.

Man sollte nie außer acht lassen, was es für eine wirkliche Erziehungskunst bedeutet, wenn Kinder etwas aufgetragen bekommen, was dann nicht zu erzwingen ist. Es ist viel, viel besser, wenn man mit Zwangshausaufgaben haushält, so daß man darauf rechnen kann, daß dasjenige, was die Kinder zu tun haben, wirklich auch mit Lust und aus Uberzeugung heraus getan wird, als wenn man fortwährend Aufgaben gibt, und dann Kinder darunter sind, die die Aufgaben doch nicht machen. Es ist das allerschädlichste in der Erziehung, wenn immerfort Aufträge erteilt werden, die nicht ausgeführt werden. Das demoralisiert die Kinder in furchtbarer Weise. Und diese feineren Erziehungsgrundsätze sollte man besonders beachten. – Kinder, die arbeiten wollen, die haben genügend zu tun; aber man sollte nicht versuchen, nach dieser Richtung irgendeinen Zwang auszuüben von Seiten der Schule. Man sollte sich vielmehr bemühen, das Kind anzuhalten zum freiwilligen Arbeiten, wenn man durchaus will, daß die Kinder zu Hause arbeiten. Es wird genügend da sein, was das Kind arbeiten kann. Aber es sollte nicht die Tendenz dahingehen, die Grundsätze einer wirklich sachgemäßen Erziehungskunst dadurch zu durchkreuzen, daß man doch wieder auf den Zwang hinarbeiten möchte.

GA 298 Rudolf Steiner in der Waldorfschule

1919-1924

Seite 192

Ich verkenne nicht, wie schwierig die Betätigung eines solchen Interesses ist. Ich weiß gut, wie innerhalb unserer sozialen Verhältnisse die Menschen wenig Zeit und Kraft haben, wenn das Kind aus der Schule kommt, so das Kind zu fragen: Wie war es heute? Was hast du getan? -daß das Kind mit warmem Eifer gar nicht erwarten kann, daß diese Fragen gestellt werden. Es kommt nicht darauf an, daß die Eltern aus Pflichtgefühl diese Frage stellen, sondern so, daß das Kind gefragt sein will. Genieren wir uns dabei gar nicht, daß etwa das Kind manches Mal uns etwas sagen könnte, was wir selber vergessen haben, das ist selbstverständlich; das wird man gar nicht bemerken, wenn auf beiden Seiten der richtige Enthusiasmus vorhanden ist. Und unterschätzen Sie nicht, wenn der Lehrer wissen kann, das, was er tut, gibt dem Elternhause, wenn auch nur für kurze Minuten, das regste Interesse, dann weiß er seine Arbeit gut begründet, dann arbeitet er aus einer seelischen Atmosphäre heraus, die anfeuernd, erzieherisch und unterrichtend auf das Kind wirkt.

Dadurch kann gerade am wirksamsten das bekämpft werden, was von heute hervorragenden Pädagogen ausgesprochen wird. Wenn diese untereinander sind, dann sprechen sie von dem «Krieg zwischen Eltern und Lehrer». Dieser Krieg ist etwas, was so ein geheimes Diskussionsthema bei vielen Pädagogen bildet. Dieser Krieg hat ja zu einem merkwürdigen Wort geführt, das schon bekannt ist, besonders jüngere Lehrer haben es ausgesprochen: Wir müssen die Erziehung bei den Eltern, insbesondere bei den Müttern anfangen. – Wir haben dazu weder den Ehrgeiz noch genügend utopistischen Sinn. Nicht weil wir glauben, die Eltern sind nicht erziehbar, oder wollen nicht erzogen werden, sondern wir wünschen, daß zwischen Elternschaft und Lehrerschaft ein wirklich inniges freundschaftliches Verhältnis besteht, das auf der Sache begründet ist. Dazu kann viel getan werden durch das Interesse der Eltern der Schule gegenüber.

Während gerade die Eltern durch ihr Seelisches auf die leibliche Beschaffenheit des Kindes so stark wirken, hat der Lehrer nur die Möglichkeit, seelisch auf Seelisches zu wirken. Da tritt dann an die Stelle jenes nachahmenden Wesens, das das Kind bis zum Zahnwechsel den Eltern entgegenbringt, das Prinzip der notwendigen, ja selbstverständlichen Autorität. Diese müssen wir haben; darin wird der Lehrer ganz besonders unterstützt, wenn ein so charakterisiertes Interesse vorhanden ist. Schon aus der Tatsache, daß die Schule mit einem gewissen feierlichen Ernst genommen wird, fließt viel von dem, was die Eltern zum Tragen dieser autoritativen Kraft beitragen können, daß der Lehrer die Autorität sein kann, die er sein muß. Wer in der Waldorfschule Lehrer wird, ist schon vielfach gesiebt; und man darf schon zu ihm Vertrauen haben. Und wenn man etwas nicht versteht, so rümpfe man nicht gleich die Nase, sondern man vertraue auf das große, umfassende Prinzip, an das man selbst glaubt, dann wird man den Lehrer unterstützen und jede Gelegenheit benützen, die einen innigen Kontakt zwischen Elternschaft und Lehrerschaft herbeiführen kann.

Sie wissen, wir geben nicht solche Zeugnisse mit den üblichen Noten wie an öffentlichen Schulen. Wir versuchen, das Kind zu charakterisieren, auf die Individualität einzugehen. Erstens: Sitzt ein Lehrer über der Gestaltung der Zeugnisse und ist sich seiner Verantwortung bewußt, so tritt ihm Rätsel über Rätsel vor das seelische Auge, und er wägt jedes Wort, das er prägen soll. Eine große Erleichterung ist es ihm dabei, wenn er den Eltern gegenübergestanden hat, nicht wegen der Vererbungsverhältnisse, um die sich heute allein der Materialismus kümmert, sondern er sieht die Umgebung, und alles erscheint dann erst im rechten Lichte. Dabei hat man nicht nötig, in indiskreter Weise die Eltern selbst zu beurteilen, sondern er will eben in freundschaftlicher Weise sich den Eltern gegenüberstellen. Wie ich einen Brief an Bekannte und Unbekannte anders schreibe, so auch die Zeugnisse über Schüler mit bekannten und unbekannten Eltern.

Zweitens sollte der Lehrer eigentlich sicher sein, daß ein liebevolles Interesse im Elternhause ruhen würde auf solchen Zeugnissen, und ich glaube, wenn die Eltern fertig brächten, eine kleine Antwort zu schreiben auf das, was der Lehrer im Zeugnis beschrieben hat, daß das ungeheuer helfen würde. Wird das als Regel eingeführt, so hat es keine Bedeutung; wird es Bedürfnis von den Eltern aus, so ist es pädagogisch ungeheuer wichtig. Solche Schriftstücke werden gewiß mit außerordentlicher Aufmerksamkeit in unserer Waldorfschule gelesen werden; sie wären uns viel wichtiger, selbst wenn sie mit noch so vielen Fehlern geschrieben wären, als manche heute anerkannte Kulturschilderung der Gegenwart. Man würde dabei tief in das hineinschauen, was man braucht, wenn man nicht Lehrer ist aus abstrakten Ideen, sondern aus dem Zeitimpuls heraus.

Sie müssen nicht vergessen: Der Waldorfschullehrer erzieht aus einer Menschenkenntnis heraus, die nicht auf dem heute üblichen Wege zustande kommt. Aber aus dem, was in hingebungsvoller Weise Eltern dem Lehrer mitteilen könnten, würde starke Menschenerkenntnis fließen, und ich übertreibe gar nicht, wenn ich sage, fast noch wichtiger als für das Kind das Zeugnis wäre für den Lehrer das Gegenzeugnis. Aber auch hierbei lege ich nicht den größten Wert auf die einzelne Maßregel, die ich gerade nehme, sondern auf das Erhalten des regen Interesses für alles, was in der Schule vor sich geht.

Und so meine ich, daß sich von selbst für die Zeit, die zugebracht wird vom Kind in den Ferien, das Richtige ergeben wird, wenn das Schuljahr in der Weise verläuft, wie ich andeutete. Wir werden ja sehr gut tun, wenn wir die Ferien Ferien sein lassen, nicht das Kind anhalten, irgend etwas Schulmäßiges zu treiben; aber wenn diejenige Gesinnung sich auslebt, die ich wünschte, so wird das in der richtigen Weise Frohsinn, Freude und Erfrischung der Gesundheit für das Kind bedeuten.

Worauf es uns aber besonders ankommt, das ist eine in solche Gesinnung eingetauchte Atmosphäre, daß Sie die Erkenntnis haben: Der Waldorfschullehrer kümmert sich um das ganze Kind, vor allem auch um die Gesundheit. Und was wir uns besonders angelegen sein lassen, das ist, daß wir im Inneren unserer Seele unterrichtet sind auch über die feineren Gesundheitszustände der Kinder, die uns anvertraut sind. Eine pädagogische Kunst ist nicht vollständig, wenn sie nicht bis zu diesem Interesse am Kinde geht. Aber gerade über dieses Gebiet wird die nötige Arbeit nur möglich sein, wenn Eltern und Schule entsprechend zusam­menwirken. Da möchte man schon, daß ein aus innerem Bedürfnis stammendes Verständnis der Schule entgegenkomme, daß auch mancher Wink über das leibliche Wohl, über Diät und so weiter, von den Eltern bei unserer Waldorfschule gesucht werde.

GA 300a Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule

Seite 48

3. Ein ähnlicher Prozeß des langsamen Wachsens einer Form zu innerer Realität hin ist bei der Frage der Zeugnisgebung und der Versetzung zu beobachten. Im Seminarkurs am 6. September 1919 (S. 183) ist noch von mehreren Zeugnissen die Rede, die im Laufe des Jahres zu geben seien, „als von der Außenwelt Gefordertes”;

ähnlich auch noch in der Konferenz am 23. Dezember 1919 (1/116). Aber am 14. Juni 1920 (1/147) wird wie selbstverständlich von nur einem Jahreszeugnis gesprochen. Der Kopf der Zeugnisse wurde später von ihm so angegeben:

Dieses Zeugnis

wird_______________________________________________

geboren am_______________in_________________________

für die Klasse_____________im Schuljahr 19__/19__ gegeben

Über die Art, wie diese Zeugnisse innerlich zu gestalten seien, sollten Rudolf Steiners mehrfache Äußerungen (vgl. Sachwortverzeichnis) nachgelesen werden.

4. Der Übergang in die nächsthöhere Klasse wird von der üblichen Versetzung oder Nichtversetzung hinübergeführt zu dem Mitheraufnehmen möglichst sämtlicher Schüler mit dem Jahrgang, der ihrem Alter entspricht. In den beiden ersten Schuljahren wird noch bei allen besonders schwierigen Kindern einzeln besprochen, ob man sie „versetzen”, das heißt, weiter mitgehen lassen kann (1/168—171, 281—283). Im dritten Schuljahr ist eine solche Besprechung schon unnötig geworden.

GA 300c Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule

1919 -1924

Seite 169

Die Zeugnisse müssen mit mehr Liebe verfaßt werden. Sie sind nicht mit Liebe verfaßt. Auf die Schülerindividualität muß man mit mehr Liebe hinsehen. Selbst äußerlich ist dieses Zeugnis schlampig. So etwas schaut schlecht aus. Ein Zeugnis sollte übersichtlich und sauber aussehen. Es wird Kinder geben, wo man veranlaßt ist, über die innere Entwickelung zu schreiben. Wenn unsere Einrichtungen so versagen, wäre es besser, wir machen nichts Riskantes. Ich furchte, es wird noch schlimmer werden, weil doch die Sorgfalt für eine solche Individualität nicht da ist.

Frage, ob das Kind L. K. aus der 3. Klasse in die Hilfsklasse soll.

Dr. Steiner: Die Mutter ist schrecklich, war schon als junges Mädchen pathologisch. Das Kind ist nicht geeignet für die Hilfsklasse, wo wir nur Kinder mit einem intellektuellen oder Gemütsdefekt hinbringen sollten. Die K. ist bloß schlimm. Man würde sie bloß bestrafen. In die Hilfsklasse paßt sie nicht hinein. Nicht alle in die Hilfsklasse hineinstecken.

X.: Ist der K. E. in der 4. Klasse wohl als normal anzusehen?

Dr. Steiner: Was ist normal? Eine Grenze ist ja gar nicht zu ziehen. Der K. E. ist nicht abnorm. Unter solchen Umständen kann man ein Kind in die frühere Klasse geben.

X. fragt wegen des R. A. in der 5. Klasse, der gestohlen hat.

Dr. Steiner: Vier Jahre lang hat er nicht gestohlen. Jetzt fängt er an zu stehlen. Wir haben die Aufgabe, ihn zu einem ordentlichen Menschen zu machen. Es muß doch etwas sein, daß der Kontakt zwischen Lehrerschaft und Kindern nicht vorhanden ist. Wenn die Kinder völliges Vertrauen haben, ist es eigentlich gar nicht möglich, daß solche moralischen Defekte vorkommen. Den sollten Sie gerade in der Klasse behalten. Er ist kein Kleptomane. Er hat keine Mitwisser gehabt. Auf die Psychologie der Kinder muß man eingehen. Es kann ein Bravourstück vorkommen. Es könnte so eine geheime, verschmitzte Nichtsnutzigkeit gewesen sein. Ich habe ihm gehörig meine Meinung gesagt.

GA 301 Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft

1920

Seite 122

Wir müssen uns ja vor allen Dingen dessen bewußt sein, daß die eigentliche unterscheidende Urteilskraft, dasjenige, was den Menschen befähigt zu urteilen, seIbständig zu urteilen, daß das im Grunde genommen erst mit der Geschlechtreife voll auftritt, und daß es sich vorbereitet langsam von dem 12. Lebensjahre an. So daß wir sagen können: bis zum 9. Jahre entwickelt sich ja schon der Hang der menschlichen Natur unter Autorität sich zu entwickeln; aber es wirkt noch nach bis in dieses 9. Jahr herein das, was man den Nachahmungstrieb nennen kann. Dann verschwindet dieser Nachahmungstrieb, der Hang zur Autorität bleibt. Dann beginnt aber im 12. Lebensjahr ungefähr, noch unter der Leitung der Autorität, die noch weiter wirkt, der entscheidende Trieb, Urteile, selbständige Urteile zu entwickeln. Bauen wir zu sehr auf das selbständige Urteil schon vor dem 12. Jahre, dann ruinieren wir eigentlich die seelisch-leiblichen Kräfte des Kindes, dann ertöten wir vor allen Dingen das ganze menschliche Miterleben mit einem Urteil.

Ja, ein Mensch, der nicht ganz ausgetrocknet ist, für den ist es ja nicht gleichgültig, urteilend zu irgend etwas ja oder nein zu sagen. Je nachdem wir zu diesem oder jenem ja oder nein sagen müssen, empfinden wir Lust und Leid, Freude und Schmerz. Aber allerdings, so sehr es auch die Menschen im Felde des Egoismus empfinden, was sie zu beurteilen haben als lustvoll und als leidvoll, so wenig sind die Menschen heute dazu erzogen, das Ganze des Lebens und der Welt lustvoll und leidvoll zu empfinden. Aber dadurch geht einem als Mensch viel verloren. Und außerdem beeinflußt dieses Nichterlebenkönnen der Welt auch das ganze soziale Wollen. Daher ist wirklich nicht bloß auf die Heranbildung richtiger Begriffe im Lehrstoff besonderer Wert zu legen, sondern auch auf die Heranbildung einer richtigen Weltempfindung, eines richtigen Sichhineinstellens in die Welt.

Heute beherrscht die Menschheit ja fast einzig und allein ein Urteil in sozialer Beziehung.

GA 301 Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft

1920

Seite 168

Wenn wir uns noch einmal die drei wichtigen Abschnitte des Volksschullebens vor Augen führen, so sind es diese: vom Eintritt in die Volksschule vom 6., 7. Lebensjahr bis zum 9.; vom 9. bis ungefähr 12. Jahre; und dann vom 12. bis ungefähr zu der Geschlechtsreife. Nun liegt die Sache so, daß dasjenige, was man menschliches Urteilsvermögen nennen könnte, selbständige Urteilsfähigkeit, eigentlich erst mit , der vollen Geschlechtsreife im Menschen auftritt. Eine Art von Vorbereitung findet allerdings in der menschlichen Natur auf diese Urteilsfähigkeit hin eben vom 12. Lebensjahre ab ungefähr statt. Deshalb ist dies vom 12. Lebensjahre ab eine Art von drittem Abschnitt der Volksschulzeit, weil ja gewissermaßen schon hereinleuchtet dasjenige, was dann die Hauptsache in der menschlichen Wesenheit nach erlangter Geschlechtsreife ist, die selbständige Urteilsfähigkeit.

Nun kann man ja — wie ich schon einmal bemerkte – dasjenige, was Geisteswissenschaft vertreten muß über gewisse Glieder der menschlichen Wesenheit, anfechtbar finden. Man kann sagen: Wozu unterscheiden zwischen physischem Leib, Ätherleib, astralischem Leib und so weiter. Gewiß, wenn man bloß ein theoretisches Interesse an diesen Dingen hat, so wird dieses Interesse höchstens einmal einem Sensationsbedürfnis dienen können; aber man wird doch nicht sehr weit gehen können mit einem solchen Interesse. Anders ist es, wenn die Lebenspraxis ein solches Interesse herausfordert. Und das ist ganz gewiß der Fall in bezug auf die pädagogische Kunst. Denn jedesmal, wenn ein solcher Lebensabschnitt im menschlichen Gesamtleben auftritt, wird eigentlich aus der menschlichen Natur heraus richtig etwas geboren. Ich mußte ja darauf aufmerksam machen, wie dieselben Kräfte, die mit dem 7. Jahre, also mit der Volksschulzeit auftreten als Erinnerungskräfte, Gedankenkräfte und so weiter, gearbeitet haben am menschlichen Organismus bis zum 7. Jahre, so daß der stärkste Ausdruck dieses Arbeitens das Erscheinen der zweiten Zähne ist. Gewissermaßen im Organismus arbeiten die Kräfte, um die es sich später handelt in der Volksschulzeit, als Vorstellungskräfte; im Organismus wirken sie in der menschlichen Natur verborgen; dann werden sie befreit, werden selbständig, und diese Kräfte, die da selbständig werden, die nennen wir die Kräfte des Ätherleibes. Wiederum mit der Geschlechtsreife werden andere Kräfte selbständig, die uns in die Außenwelt in der mannigfaltigsten Weise einführen. Aber in dem System dieser Kräfte ist zugleich enthalten das menschliche selbständige Urteilsvermögen. So daß wir sagen können: der eigentliche Träger des menschlichen Urteilsvermögens, dasjenige im Menschen, was die Kräfte enthält, die ein Urteil hervorbringen, das wird im Menschen im Grunde genommen erst mit der Geschlechtsreife geboren und bereitet sich langsam zur Geburt vor vom 12. Jahre ab.

Wenn man dies weiß und richtig würdigen kann, dann ist man sich auch bewußt, welche Verantwortung man übernimmt, wenn man den Menschen zu früh an selbständiges Urteil gewöhnt. Ja, in dieser Beziehung herrschen ja insbesondere in der Gegenwart die allerverderblichsten Vorurteile: man möchte so früh wie möglich den Menschen an selbständige Urteile gewöhnen.

Wir haben gesagt: der Mensch ist so zu halten bis zur Geschlechtsreife reife, daß er unter dem Einfluß der Autorität steht, daß er anerkennt irgend etwas deshalb, weil es die selbstverständlich neben ihm wirkende Autorität eben gebietet, eben so will. Wenn wir das Kind gewöhnen, in der richtigen Weise zu uns als Lehrer, als Erzieher zu stehen und hinzunehmen die Wahrheit, weil wir sie als Autorität vertreten, gerade dann bereiten wir das Kind in der richtigen Weise vor, später im Leben ein freies, ein selbständiges Urteil haben zu können. Wollen wir nicht als selbstverständliche Autorität neben dem Kinde stehen, wollen wir gewissermaßen verschwinden, und fordern alles der kindlichen Natur ab, dann bearbeiten wir dieses Kind so, daß wir seine Urteilsfähigkeit zu früh herausfordern, ehe das, was wir also astra-lischen Leib nennen, mit der Geschlechtsreife erst selbständig frei erscheint; wir bearbeiten das, was wir so astralischen Leib nennen, indem es noch in der physischen Natur des Kindes drinnen wirkt. Dadurch prägen wir dem Kinde, wenn ich mich jetzt so ausdrücken darf, in sein Fleisch ein dasjenige, was wir ihm nur einprägen sollten in seine Seele. Dadurch aber bereiten wir in dem Kinde etwas vor, was sein ganzes Leben als ein Schädling in ihm leben wird. Denn es ist etwas ganz anderes, ob wir zum freien Urteil, nachdem wir gut vorbereitet sind, im 14., 15. Jahre heranreifen, wo der astralische Leib, der der Träger des Urteils sein kann, frei geworden ist, oder ob wir früher herangezogen werden zum sogenannten selbständigen Urteil. Im letzten Fall wird nicht unser Astralisches, das heißt unser Seelisches, herangezogen zum selbständigen Urteil, sondern da wird unser Leib herangezogen. Unser Leib aber wird herangezogen mit allen seinen naturgemäßen Eigenschaften, mit seinem Temperamente, mit seiner Blutbeschaffenheit, mit alledem, was in ihm Sympathie und Antipathie hervorruft, mit alledem, was ihm  keine Objektivität gibt. Mit anderen Worten, wenn das Kind zwischen dem 7. und 14. Jahre schon selbständig urteilen soll, so urteilt es aus demjenigen Teil der Menschennatur heraus, der später niemals wiederum abgestreift werden kann, wenn wir nicht dafür sorgen, daß er selber in naturgemäßer Weise in der Volksschulzeit versorgt wird, nämlich durch Autorität. Lassen wir zu früh urteilen, so urteilt der Leib das ganze Leben hindurch. Dann bleiben wir ein schwankender Mensch in unserem Urteil, der abhängig ist von seinem Temperament, von allem möglichen in seinem Leibe. Werden wir so vorbereitet, wie es der Natur unseres Leibes entspricht, wie der Leib es fordert durch seine eigene Natur, werden wir zur rechten Zeit in Anlehnung an die Autorität erzogen, dann wird in der richtigen Weise frei dasjenige, was urteilen soll in uns, dann werden wir später auch im Leben ein objektives Urteil gewinnen können. So ist die beste Vorbereitung zur selbständigen, freien menschlichen Persönlichkeit die, wenn wir das Kind nicht zu früh zu dieser freien Persönlichkeit bringen, sondern im rechten Lebensalter.

Das ist eines von den Dingen, die viel verderben können, wenn sie nicht in der rechten Weise gerade in der pädagogischen Kunst angewendet werden. In unserer Zeit ist es nun eigentlich recht schwierig, auf dieses alles intensiv genug aufmerksam zu machen. Sie werden finden, wenn Sie über diesen Gegenstand, wie ich selbst hier spreche, zur heutigen Außenwelt sprechen, zu denjenigen, die ganz und gar unvorbereitet sind und auch keinen guten Willen mitbringen, daß Sie heute sehr, sehr werden vor tauben Ohren predigen. Wir leben eben einmal vielmehr, als wir es denken, im Zeitalter des Materialismus, Und dieses Zeitalter des Materialismus, es sollte eigentlich genau gekannt sein gerade von den Pädagogen. Der Pädagoge sollte sich genau bewußt sein, wie viel Materialismus in unserer ganzen Zeitkultur, namentlich aber in unserer Zeitgesinnung, schäumt.

GA 303 Die gesunde Entwicklung des Menschenwesens. Eine Einführung in die anthroposophische Pädagogik und Didaktik

1921-1922

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Wer heute wirklich mit unbefangenem Blicke zu beobachten vermag, was in den weitesten Kreisen der Menschheit an massgebenden Lebensimpulsen vorhanden ist, der wird finden, dass überall eine Nuance naturwissenschaftlichen Denkens darinnen ist; und in diesem naturwissenschaftlichen Denken lebt doch wiederum der Intellektualismus. Man meint, dass man in Beziehung auf moralische Vorstellungen und Impulse, in bezug auf religiöse Ideen und Gefühle unabhängig sein könne von dem, was man naturwissenschaftlich denkt und empfindet. Man würd aber sehr bald sehen, dass man, indem man sich in der Gegenwart einfach dem überlässt, was durch alle Zeitungen und populären Werke von der Bildungsschichte in die breite Menschheit strömt, dass man mit alledem sich doch Vorstellungen hingibt, welche so gestimmt sind, dass der Ton einer naturwissenschaftlich gestimmten Saite immer hineinklingt.

Wer nicht durchgreifend versteht, dass sich der heutige Mensch mit naturwissenschaftlichen Vorstellungen des Morgens zum Frühstücks-tisch hinsetzt und des Abends mit naturwissenschaftlichen Vorstellungen zu Bette geht, dass er seine Geschäfte mit naturwissenschaftlichen Vorstellungen verrichtet, dass er seine Kinder mit naturwissenschaftlichen Vorstellungen erzieht, der versteht das Leben nicht, denn er glaubt, dass er ganz unabhängig vom naturwissenschaftlichen Denken dastehe im Leben. Es ist aber nicht der Fall. Wir gehen sogar in die Kirche mit naturwissenschaftlichen Vorstellungen, und wenn uns die ältesten, konservativsten Ansichten von der Kanzel herab verkündet werden, — wir hören sie an mit einem Ohr, das naturwissenschaftlich gestimmt ist. Die Naturwissenschaft aber lebt vom Intellektualismus.

Zwar betont sie bei jeder Gelegenheit, dass sie alles auf Beobachtung, auf das Experiment, und die äussere Erfahrung aufbaue. Aber das seelische Instrument, dessen man sich bedient, indem man das Teleskop nach den Sternen lenkt, das Instrument, dessen man sich bedient, wenn man im Laboratorium Versuche macht über Chemie, über Physik, das ist ein Instrument, das eben das intellektualistische der menschlichen Seele ist. Und dasjenige, was der Mensch aus der Natur macht, macht er durch seinen Intellekt.

Nun liegt die Sache so, dass die Menschheit des gebildeten Abendlandes gerade in der neuesten Zeit ganz besonders entzückt geworden ist von all den Ergebnissen, die für die allgemeine Zivilisation durch den Intellektualismus heraufgekommen sind. Man hat gelernt, nunmehr so zu denken: frühere Epochen der Menschheit waren mehr oder weniger unintelligent. Sie ergaben sich kindlichen Vorstellungen über die Welt. Jetzt sind wir vorgeschritten zu einer intelligenten Auffassung der Welt. — Und man ist dazu gelangt, diese intelligente Auffassung der Welt als das anzusehen, was allein einen festen Boden hat. Man ist, in die Furcht verfallen, dass man ins Phantastische hineinkommt, wenn man den Boden des Intellektualismus verlässt.

Derjenige, der im Geist der gegenwärtigen Zeit denkt, der der Geist namentlich auch der letzten Jahrhunderte war, der sagt sich: zu einer wirklichen Erfassung des Lebens komme ich nur, wenn ich mich an das Intellektuelle halte; sonst laufe ich Gefahr, mich phantastischen Ideen über die Natur und über das Leben hinzugeben. Das ist auf der einen Seite als eine feste Idee heraufgekommen in der neuesten Zeit.

Nun liegt etwas sehr Bemerkenswertes vor. Dasjenige, was man auf der einen Seite als das Wertvollste anschaut, als das Bedeutsamste für die ganze neuere Zivilisation, es ist auf der anderen Seite gerade in der unmittelbaren Gegenwart zu einer Frage geworden, und am meisten zu einer Frage derjenigen, die es mit der Erziehung und mit der Unterrichtskunst der Menschen ernst meinen. Man hat auf der einen Seite hinzuschauen, wie die Menschheit gross geworden ist durch den Intellektualismus, und man sieht andererseits heute die Erziehungs-, die Unterrichtsergebnisse des Intellektualismus und erklärt: wenn man die Kinder nur intellektualistisch erzieht, verkümmern ihre Fähigkeiten, verkümmern ihre menschlichen Kräfte. Und man sehnt sich darnach, gerade in Erziehungs- und Unterrichtskunst etwas anderes an die Stelle des Intellektualismus zu setzen. Man appelliert an das Gemüt, an den Instinkt, man appelliert an die Moralimpulse, an die religiösen Impulse des Kindes. Man will etwas haben, was abliegt vom Intellekt. Aber was brauchte man, um das zu finden, was man da haben will? Man brauchte eben eine durchgreifende Menschenerkenntnis, die wiederum nur die Konsequenz einer durchgreifenden Welterkenntnis sein kann. Wie die gegenwärtige Welterkenntnis über die Erziehung denkt, das kann man eben, wie ich eingangs bemerkte, bei einer repräsentativen Persönlichkeit ganz besonders ersehen. Und eine solche repräsentative Persönlichkeit scheint, wenn man alles erwägt, was dabei in Betracht kommt, Herbert Spencer zu sein.

GA 303 Die gesunde Entwicklung des Menschenwesens. Eine Einführung in die anthroposophische Pädagogik und Didaktik

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Herbert Spencer sagt daher: wir müssen uns zu Missionaren der kausalen Naturvorgänge machen, wenn wir Kinder in der richtigen Weise erziehen wollen. Wir müssen zum Beispiel, wenn wir einen Knaben sehen, der neugierig ist, wie kleine Papierschnitzelchen an einer Flamme brennen, wir müssen uns dann sagen: dieser Knabe ist wissbegierig, und müssen versuchen, ihn möglichst gelinde dazu zu selbst beschädigt, oder uns vielleicht das ganze Zimmer anzündet, son­dern wir müssen uns zunächst klar darüber werden, dass er wiss­begierig ist, und müssen versuchen, ihn möglichst gelinde dazu zu bringen, dass er sich einmal verbrennt; dann wird er in dem, was er erlebt, den richtigen Kausalzusammenhang haben. So sollen wir überall sorgen, dass der richtige Kausalzusammenhang eintritt, und uns zu Missionaren des Kausalzusammenhanges in der Natur machen.

Man wird heute überall hören, gerade wo man reformieren will, dass diese Maxime die einzig mögliche ist. Und derjenige, der unbefangen ist, wird sagen: ja, sie ist die einzig-Mögliche, wenn unsere intellektualistisch-naturwissenschaftliche Grundempfindung die einzig richtige ist. Es gibt gar keine andere Möglichkeit, als so zu denken über das Erziehen und Unterrichten, wenn die naturwissenschaftlich-intellektualistische Richtung das Wahre ist.

Aber wozu kommt man dann mit aller Erziehungs- und Unterrichtskunst, wenn man bis ins Extrem hin so vorgeht, wenn man ganz wahr wird in diesem Erziehen und Unterrichten? Man spannt ja den Menschen ganz und gar ein mit all seinem Empfinden, mit all seinem Denken in dasjenige, was im Laufe der Natur sich vollzieht. Und, was er denkt und empfindet, das ist gewissermassen nichts weiter mehr als dasjenige, was in der Natur geschieht, was ganz von selbst geschieht, was geschieht, wenn der Mensch eben möglichst unbewusst an der Natur sich nur beteiligt. Der Mensch wird dadurch in die äussere Natur ganz eingespannt. Er wird nicht herausgehoben aus der äusseren Natur.

Er wird gewissermassen zu einem Gliede in der Kette der Naturnotwendigkeiten gemacht.

Da sehen Sie das Umgekehrte von dem, was ich vorhin zu erwähnen hatte. Ich habe vorhin gesagt: der Mensch wird durch die moderne Natur-Philosophie aus der Welt herausgeworfen. Man kennt ihn nur noch als das letzte Glied der Naturentwicklung, aber nicht mehr als Menschen. Er wird herausgeworfen, weil man nichts über ihn weiss; weil man nichts über ihn selber aussagen kann, stellt man ihn wiederum hinein in die Natur. Und er soll auch praktisch nicht aus der Natur herausgehoben werden, er soll in die Naturordnung, in die Naturnotwendigkeit hineingefügt werden. Er soll ganz und gar zu einem solchen Wesen werden, welches den Kausalzusammenhang verwirklicht.

Die Anschauung, die Gedanken über die Natur werfen den Menschen heraus. Die Erziehungs- und Unterrichtskunst stellt den Menschen in das Aussermenschliche hinein. Man verliert ganz und gar den Menschen. Man macht sich das nur nicht klar, weil man nicht den Mut dazu hat. Aber wir sind heute an einem Weltenwendepunkte, wo man den Mut dazu haben muss, bis in diese Urimpulse der Menschheitsentwicklung hineinzuschauen, denn der Mensch muss dasjenige, was er vorstellt, zuletzt auch empfinden.

Nun ist das ja heute eine Tatsache, dass uns Menschen entgegentreten, welche mit gläubigem Gemüte auf dasjenige hinschauen, was naturwissenschaftliche Voraussetzung ist, und sich sagen: man darf eben einfach über die Welt keine anderen Vorstellungen haben als diese: Erdenanfang = durch Aero-Mechanik zu begreifender Nebel; Erdenende = Wärmetod, Friedhof. In der Mitte: der Mensch, der zu seiner eigenen Illusion herauswächst aus dem Aussermenschlichen, in dem aufsteigen, um ihn zu betrügen, die Illusionen von moralischen Ideen, von religiösen Impulsen, von allerlei sonstigen Idealen, und der sich zuletzt um all dieses betrogen sieht, weil alles das doch auslaufen muss in den allgemeinen Friedhof.

Eine tragische Stimmung kommt dann über solche Menschen. Sie sind aber nur diejenigen, die das in besonders drastischer Weise ausleben müssen, was eigentlich im Unterbewussten im grössten Teil der heutigen Menschheit abgelagert ist. Und aus dieser Stimmung heraus erwächst dasjenige, was wir heute in der allgemeinen Zivilisation sehen.

Mit dieser Stimmung können wir nicht erziehen, denn diese Stimmung ermangelt einer Welterkenntnis, die so stark in sich ist, dass sie zur Menschenerkenntnis vorschreiten kann, zu einer solchen Menschen-erkenntnis, in der der Mensch seinen Wert und sein Wesen findet, so wie er es empfinden muss, wenn er sich wirklich in der Welt als Mensch wissen soll. Wir können heute den Menschen nach Naturnotwendigkeit erziehen. Wir können ihn aber dann nicht zum freien, zum wirklich freien Menschen machen. Wenn wir ihn zum wirklich freien Menschen heranwachsen sehen, so geschieht das im Grunde genommen, trotzdem wir ihn falsch ausbilden, nicht weil wir ihn richtig ausbilden.

Man kann heute nicht über die Welt nur denken. Man muss heute so über die Welt denken, dass das Denken allmählich in eine allgemeine Weltempfindung übergeht. Denn aus Empfindungen heraus entstehen die Impulse zur Reform, zum Weiterarbeiten. Anthroposophie will eine solche Welterkenntnis sein, die nicht im Abstrakten bleibt, die in die Empfindung sich hineinlebt, und die dadurch zu einer Grundlage für Pädagogik und Didaktik werden kann.

Was wir im Vorstellungsleben durch lange Zeiten begründet haben, tritt uns im äusseren Leben gegenwärtig bereits historisch entgegen. Der Mensch ist durch die Ideen über die Welt, durch seine Welterklärung, aus der Welt herausgeworfen worden. Auf dasjenige, was sich da als Vorstellung in den Oberschichten der menschlichen Zivilisation herausgebildet hat, antwortet heute das Echo aus den Impulsen von Millionen und aber Mülionen des Proletariervolkes. Und die zivilisierte Welt will den Zusammenhang zwischen dem, was sie denkt, und dem, was heute aus den Gemütern der Proletarier darauf antwortet, nicht einsehen. Dasjenige, was als eine Empfindung in dem einzelnen Menschen wie eine tragische Stimmung leben kann, dass er sich sagt: was aus dem Menschen herauskommt an moralischen Idealen, an religiösen Impulsen, das sind im Grunde genommen Illusionen, eingezwängt zwischen dem nebulosen Erdenanfang und dem Wärmetod der Erde, das tritt uns in der Lebensphilosophie von Millionen und Millionen Proletariern heute entgegen. In dieser Lebensphilosophie wird als das einzige Reale dasjenige aufgefasst, was der Mensch im wirtschaftlichen Leben arbeitet und erfährt.

Wie durch die verschiedenen Epochen der Menschheitsentwicklung hindurch gewirtschaftet worden ist, wie gearbeitet worden ist im wirtschaftlichen Leben, wie produziert worden ist, wie gekauft, verkauft worden ist, wie durch dieses Produzieren, durch dieses Kaufen und Verkaufen die Lebensbedürfnisse befriedigt worden sind, das soll nach dieser proletarischen Weltanschauung, nach dieser proletarischen Welt-philosophie die einzige Wirklichkeit sein. Dagegen alles dasjenige, was im wirtschaftenden Menschen aufsteigt als moralische Anschauung, als religiöse Ideale, als künstlerische Impulse, als Staatsideale, das ist eine Ideologie, das ist etwas im Grunde Illusionäres, das ist ein unwirklicher Ueberbau über dem einzig Wirklichen der Produktionsprozesse. In dieser Form ist das, was sich in den Oberschichten der Menschen mehr wie eine theoretische, höchstens noch wie eine religiöse Ueberzeugung erhalten hat, in den proletarischen Schichten praktische Lebensweisheit nicht nur, sondern Lebensrealität geworden; das ist dasjenige geworden, wonach gehandelt wird.

In dieses Leben ist der Mensch hineingestellt. Aus diesem Leben heraus will er erziehen und muss er erziehen. Aber er muss dieses Leben, wenn er erziehen will, wenn er unterrichten will, unbefangen anschauen können.

Es ist ein Eigentümliches, dass gerade der Intellektualismus mit seinem Gefolge der naturalistischen Lebensauffassung, eigentlich den Menschen nicht tiefer in die Wirklichkeit hineingebracht hat, sondern aus der Wirklichkeit herausgebracht hat. Verfolgen Sie frühere Lebensphilosophien von diesem Gesichtspunkte aus: Sie werden überall Lebensgedanken finden, die geeignet sind, an das Leben irgendwo anzuknüpfen, denen gegenüber es dem Menschen ja nicht einfallen würde, sie als blosse Ideologie anzusehen. Die Menschen wurzelten eben im Leben, und sie konnten deshalb nicht daran denken, dass ihre Gedanken nur wie ein Rauch wären, der aus dem Leben aufsteigt. Heute ist diese Anschauung über einen grossen Teil der gebildeten Welt hin Lebenspraxis geworden. Und die Menschheit seufzt unter den Folgen desjenigen, was da geworden ist. Aber die Menschheit will noch nicht einsehen, dass, was in Russland geschieht und immer weiter geschehen wird in der Welt, das Ergebnis dessen ist, was an unseren Universitäten gelehrt, was in unseren Schulen heranerzogen wird. Es wird gelehrt, es wird herangezogen, — in der einen Lokalität hat man nicht den Mut, die Konsequenzen zu ziehen, in der anderen Lokalität geht man bis zu den äussersten Konsequenzen. Man wird das rollende Rad nicht aufhalten können, wenn man nicht bis zur Klarheit gerade auf diesem Gebiet drängt, hier wirklich Ursache und Wirkung einzusehen, wenn man nicht einsieht, dass der Mensch in eine Wirklichkeit hineingestellt ist, innerhalb welcher er sich unmöglich wird bewegen können, wenn er sie bloss intellektualistisch erfasst. Der Intellektualismus hat als ein Instrument keine Kraft, in die Wirklichkeit einzugreifen.

GA 304 Erziehung und Unterrichtsmethode auf anthroposophischer Grundlage

Seite 126

1921-1922

Wir hätten ja gar nicht die Möglichkeit gehabt unsere Waldorfschule zu begründen, wenn wir nicht auf gewisse Kompromisse eingegangen wären. Ich habe daher gleich beim Beginn der Waldorfschule für das Ministerium ein Memorandum ausgearbeitet, worinnen ich gesagt habe: Wir verpflichten uns, die Kinder mit dem neunten Jahre so weit zu haben, daß sie in jede andere Schule übertreten können; dann wiederum mit dem zwölften Jahr und wiederum mit dem vierzehnten Jahr. Aber in der Zwischenzeit wollen wir für die Methodik vollkommene Freiheit haben. Das ist zwar ein Kompromiß, aber man muß eben mit dem Gegebenen rechnen. Dennoch aber, in gewissen Dingen konnten wir das durchführen, was einfach für eine gesunde Pädagogik und Didaktik selbstverständlich ist: das ist zum Beispiel das Zeugniswesen. Sehen Sie, ich habe es ja in meiner Jugend auch erfahren, daß dasteht im Zeugnis: «fast lobenswert», «kaum befriedigend» und so weiter. Aber ich bin nie darauf gekommen, durch welche Weisheit die Herren Lehrer darauf kamen, von «kaum befriedigend» ein «fast befriedigend» zu unterscheiden, das ist mir bis jetzt nicht aufgegangen. Entschuldigen Sie, aber es ist so. Statt solcher Zensuren stellen wir Zeugnisse aus, welche in den Worten, die dem Lehrer vom Schnabel gewachsen sind, gegenüber dem Kinde sich aussprechen, die keine Zahlen haben und dadurch Phrase sind gegenüber dem Kinde. Denn wenn etwas keinen Sinn hat, so ist es eben Phrase. Wenn das Kind langsam in das Leben hineinwächst, so schreibt der Lehrer in das Zeugnis dasjenige auf, was für das Kind speziell notwendig ist; so daß für jedes Kind etwas anderes dasteht – eine Art Charakteristik des Kindes. Und dann geben wir jedem Kinde, wenn das Schuljahr aus ist, einen Spruch mit, der ihm entspricht. Nun nimmt es allerdings etwas Zeit, bis jedes Kind in der Weise sein Zeugnis bekommt. Das Kind nimmt es in die Hand, hat einen Spiegel vor sich. Ich habe bisher noch kein Kind gefunden, das nicht mit Interesse sein Zeugnis in die Hand genommen hätte, selbst wenn nicht alles besonders gelobt wurde. Und besonders der Geleitspruch ist etwas, was dann dem Kinde etwas sein kann. Sehen Sie, man muß alle Mittel anwenden, um dann bei den Kindern die Empfindung hervorzurufen, daß diejenigen, die sie leiten und erziehen, in ernsthafter Weise, nicht einseitig, sondern so, daß ein unmittelbares Interesse da ist für das Kind, die Zeugnisse ausstellen.

GA 305 Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst. Spirituelle Werte in Erziehung und sozialem Leben

1922

Seite 152

Man hat es ja nötig, dasjenige, was man mit dem Kinde in einem Schuljahre erarbeitet, festzustellen, wenn das Schuljahr abgeschlossen ist. Man nennt das heute: Zeugnis darüber ausstellen, ob und inwiefern das Kind das Lehrziel erreicht hat. In manchen Ländern wird die Art und Weise, wie das Lehrziel von dem Kinde erreicht worden ist in einem Jahre oder manchmal sogar in Zwischenpausen, den Eltern und den für das Kind verantwortlichen Menschen so mitgeteilt, daß man Zahlen aufgestellt hat: 1, 2, 3, 4; jede Zahl bedeutet, daß das Kind in bezug auf gewisse Gegenstände eine gewisse Fähigkeit erlangt hat. Manchmal, wenn man nicht weiß, ob eine 3 oder eine 4 das richtige Maß ausdrückt, wie das Kind diese Fähigkeit erreicht hat, so schreibt man 3 ½  und manche Lehrer haben es gar zu der großen Kalkulationskunst gebracht, 3 ¼  zu schreiben. Ich gestehe Ihnen, daß ich diese Kunst, in solchen Zahlen die menschlichen Fähigkeiten auszudrücken, mir nie aneignen konnte.

Das Zeugniswesen in der Waldorfschule wird in einer anderen Weise gehandhabt. Gerade wenn der Lehrkörper, das Lehrerkollegium eine solche Einheit ist, daß jedes Kind in der Schule von jedem Lehrer in einem gewissen Sinne gekannt ist, dann ist es auch möglich, aus dem Ganzen des Kindes heraus ein Urteil über das Kind abzugeben. Daher sieht ein Zeugnis, das wir am Ende eines Schuljahres dem Kinde ausstellen, so wie eine kleine Biographie aus, wie Aperçus aus, über die Erfahrungen, die man mit dem Kinde in und außer der Klasse während des Jahres gemacht hat.

Das Kind hat dann, und die Eltern, die verantwortlichen Vormünder haben vor sich ein Spiegelbild desjenigen, wie das Kind in diesem Lebensalter ist. Und wir haben sogar in der Waldorfschule die Erfahrung gemacht, daß man herben Tadel in dieses Spiegelzeugnis hineinschreiben kann, die Kinder nehmen das mit Zufriedenheit auf.

Und dann schreiben wir in das Zeugnis noch etwas anderes hinein. Wir verbinden Vergangenheit mit Zukunft. Wir kennen das Kind, wissen, ob es in der Willenstätigkeit, im Gefühlsleben, in der Denkaktivität fehlt, wissen, ob die oder jene Emotionen prädominieren. Darnach formen wir für jede einzelne Kindesindividualität in der Waldorfschule einen Kernspruch. Den schreiben wir in das Zeugnis hinein. Der soll eine Richtschnur für das ganze nächste Schuljahr sein. Das Kind nimmt diesen Kernspruch so auf, daß es immer daran denken muß. Und dieser Kernspruch hat dann die Eigenschaft, auf den Willen oder auf die Affekte oder Gemütseigenschaften in entsprechender Weise ausgleichend, kontrollierend einzuwirken.

So hat das Zeugnis nicht nur einen intellektuellen Ausdruck dafür, was das Kind geleistet hat, sondern es hat eine Kraft in sich, es wirkt, bis das Kind wiederum ein neues Zeugnis bekommt. Aber gerade daraus können Sie entnehmen, wie genau man eindringen muß in die kind­liche Individualität, um bis zu einem gewissen Grade das Kind mit einem solchen tatkräftigen Zeugnisse zu entlassen.

Sie sehen daraus zugleich, daß es uns in der Waldorfschule nicht darauf ankommt, eine Schule zu begründen, die ganz besondere äußere Einrichtungen braucht. Wir legen allen Wert auf dasjenige in der Pädagogik und Didaktik, was aus den Lebensverhältnissen heraus heute jedem Schulwesen eingeimpft werden kann. Wir sind nicht Revolutionäre, die einfach sagen: Stadtschulen taugen nichts, man muß alle Schulen hinaus verlegen auf das Land und dergleichen, sondern wir sagen: das Leben aus seinen Verhältnissen heraus gibt dies oder jenes; wir nehmen die Verhältnisse, wie sie sind, und bringen in jede Art von Schulwesen dasjenige hinein, was aus diesen Verhältnissen heraus in richtiger pädagogisch-didaktischer Weise zum Menschenheile wirken kann.

Dadurch kommen wir auch in die Lage, möglichst wenig Gebrauch von dem machen zu müssen, was man sonst im Leben nennt «sitzen bleiben», daß das Kind in der Klasse, in der es ein Jahr war, noch ein Jahr verweilen muß, damit es darinnen noch gescheiter wird. Man hat uns sogar in der Waldorfschule getadelt, weil wir in den höheren Klassen solche Kinder haben, von denen die äußeren Schulbehörden meinten, sie hätten sitzen bleiben müssen. Bei uns ist es außerordentlich schwierig, schon aus gewissen menschlichen Gründen, dieses Sitzenbleiben durchzuführen, weil unsere Lehrer so sehr an den Kindern hängen, daß manche Tränen vergießen würden, wenn sie ein Kind zurücklassen müßten. Es ist so, daß tatsächlich ein inniger Kontakt zwischen den Kindern und dem Lehrer hervorgerufen wird, und dadurch wird tatsächlich auch dieses ominöse Sitzenbleiben vermieden. Man kann ohnedies nichts Vernünftiges mit diesem Sitzenbleiben anfangen. Denn nehmen wir an, wir lassen einen Jungen oder ein Mädchen mit 9 Jahren sitzen in einer vorhergehenden Klasse; das Mädchen oder der Knabe ist aber so veranlagt, daß ihm, wie man sagt, der Knopf im 11. Jahre aufgeht, dann bringen wir das Kind in die Klasse des 11. Jahres um ein Jahr zu spät. Das ist ein viel größerer Schaden, als wenn der Lehrer mit diesem Kinde einmal Mühe gehabt hat, indem es schwächer sich in die Gegenstände eingelebt hat und es in der nächsten Klasse doch mitnehmen muß.

Nur für die allerschwächsten Schüler haben wir eine Hilfsklasse eingerichtet. Wir haben nur eine Hilfsklasse, in der wir die schwachen Schüler aller übrigen Klassen haben müssen, weil wir zu einer großen Anzahl von Hilfsklassen kein Geld haben.

GA 310 Der pädagogische Wert der  Menschenerkenntnis und der Kulturwert der Pädagogik

1924

Seite 176

Als unsere Schüler und Schülerinnen zum ersten Mal die letzte Klasse zu absolvieren hatten, waren wir zu folgendem genötigt. Damit die jungen Menschen nun den Anschluß finden an die tote Kultur – wir hatten ihnen nur lebendige Kultur geben können, nun mußten sie den Anschluß an die tote Kultur finden, das heißt, sie mußten ein Abiturientenexamen ablegen so mußten wir die letzte Klasse so gestalten, daß unsere Schüler und Schülerinnen das Abiturientenexamen ablegen konnten. Das hat aber unseren Lehrplan ganz durchkreuzt, und wir empfanden es in der Lehrerschaft als etwas ungeheuer Schwieriges, in der letzten Klasse so zu stehen, daß wir unseren ganzen Lehrpian auf die Examensarbeit hin einrichten mußten. Wir haben es getan. Wenn ich die Klasse besucht habe – es war mir wirklich gar nicht leicht, denn da gähnten die Schüler auf der einen Seite, weil sie lernen mußten, was sie im Examen später kennen mußten; auf der andern Seite wollte man dann manchmal etwas einfügen, was sie nicht zu kennen brauchten, aber was die Schüler wissen wollten. Da mußte man ihnen immer sagen: Das müßt Ihr aber nicht beim Examen sagen. -Es ist schon eine Schwierigkeit. Und dann kam es zum Examen. Es ging leidlich ab. Aber wir hatten – verzeihen Sie, wenn ich das triviale Wort gebrauche – im Lehrerkollegium und in den Lehrerkonferenzen den Katzenjammer. Wir sagten uns: Nun haben wir die Waidorfschule eingerichtet; jetzt, wo wir sie krönen sollten durch das letzte Schuljahr, da können wir unsere Intentionen, das, was die Schule sein sollte, nicht durchführen. Und so haben wir dann trotz alledem den Beschluß gefaßt, bis zum letzten Schuljahre, bis zum Ende der 12. Klasse streng den Lehrplan durchzuführen und daneben den Eltern und Schülern den Vorschlag zu machen, nachher noch ein Jahr dranzustückeln, damit die Schüler dann ihr Examen machen können. Namentlich die Schüler und Schülerinnen unterziehen sich diesem mit der größten Hingabe, daß sie wirklich nun mit dem, was in der Waldorfschule intendiert, gewollt wird, auskommen wollen. Wir haben eigentlich keinen Widerspruch erfahren. Das einzige, worum wir gebeten wor­den sind, ist, daß nun Waldorfschullehrer diese Trainierung zum Examen vornehmen sollten.

Man sieht, wie schwierig es ist, etwas, was aus bloßer Menschen­erkenntnis hervorgehen sollte, tatsächlich in die heutige sogenannte Wirklichkeit hineinzustellen. Wenn man kein Phantast ist, der das nicht einsieht, daß man mit der Wirklichkeit rechnen muß, dann hat man es erst ganz besonders schwer. Und so steht auf der einen Seite, ich möchte sagen als etwas, was selbstverständlich geliebt wird, die pädagogische Kunst innerhalb der anthroposophischen Bewegung drinnen; so steht aber wiederum die anthroposophische Bewegung mit ungeheuren Schwierigkeiten in der allgemeinen heutigen sozialen Ordnung drinnen, wenn sie dasjenige verwirklichen will, gerade auf dem geliebten Gebiete der Pädagogik, wovon sie die innerste Notwendigkeit einsieht. Auch das muß lebensvoll ins Auge gefaßt werden. Denn glauben Sie nicht, daß es mir einen einzigen Augenblick einfällt, den-jenigen zu belachen, der irgendwie innerlich sagt: Es ist doch nicht so schlimm; das alles ist doch eine Mache, denn es geht doch an andern Schulen auch ganz ordentlich zu. – Nein, darum handelt es sich nicht! Ich weiß schon, wieviel Arbeit und Mühe und auch Geist im heutigen Schulwesen drinnensteckt. Ich kann es durchaus einsehen. Aber die Menschen denken heute leider zu kurz. Man sieht nicht die Fäden zwischen dem, was Erziehung im Laufe der letzten Jahrhunderte geworden ist, und dem, was im sozialen Leben zerstörend, vernichtend, verheerend uns entgegenstürmt. Daß Anthroposophie weiß, welches die Bedingungen eines Kulturwachstums in die Zukunft hinein sind, dies allein zwingt sie, solche Methoden herauszuarbeiten, wie Sie sie auf pädagogischem Gebiete finden. Um die Menschheit handelt es sich, um die Möglichkeit, fortzuschreiten, nicht zurückzukommen.

 Aber diese Brücke vom Erwachsenen zur Kindeswelt muß wieder gefunden werden, und dazu möchte Anthroposophie das ihrige beitragen.

Seminarbesprechungen

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Es wird die Frage nach Lehrbüchern gestellt.

Rudolf Steiner: Man muß sich die gebräuchlichen ansehen. Wenn wir ohne Bücher auskommen, um so besser. Wenn die Kinder keine öffentlichen Prüfungen machen müssen, dann braucht man keine Bücher.

In Österreich müßte man die Kinder, zur öffentlichen Prüfung führen.

Wir müßten feststellen, wie man wünscht, daß wir das Erreichen der Lehrziele nachweisen. Das Ideal wäre, gar keine Prüfung zu haben. Die Schlußprüfung ist ein Kompromiß mit der Behörde. Prüfungsangst wirkt vor der Geschlechtsreife so, daß sie die physiologisch-psychologische Konstitution des Menschen treibt.

Das Beste wäre die Abschaffung alles Prüfungswesens.

Die Kinder werden viel schlagfertiger werden.

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G.: Ich dachte an die erste bis dritte Klasse. Bei Faulheit würde ich mit Strenge vorgehen und den Ehrgeiz zu wecken versuchen. Zuweilen muß man das Kind darauf hinweisen, daß es eventuell die Klasse wiederholen muß. Da muß man eben auch Eifer und Ehrgeiz wecken.

Rudolf Steiner: Auf den Ehrgeiz zu rechnen, würde ich nicht so sehr empfehlen. Der Ehrgeiz sollte nicht so sehr geweckt werden. In den ersten Unterrichtsjahren kann man solche Dinge, wie Sie sie vorschlagen, sehr gut brauchen, doch ohne zu starkes Betonen des Ehrgeizes, sonst muß man diesen Ehrgeiz später ja wieder wegerziehen. Man wird aber berücksichtigen müssen, das muß ich immer wiederum sagen, die Diät und Ernährung.

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A.: Ich hatte mir gedacht, daß bei den Kleinsten im Rechnen Gruppen zurückbleiben. Am liebsten mache ich alles anschaulich an den Fingern, an Papierstückchen, an Kugeln oder Knöpfen. Man kann auch einen sogenannten Abteilungsunterricht einführen; ohne daß die Kinder es wissen, sind sie in zwei Gruppen eingeteilt, Begabte und Schwache. Man nimmt dann die Schwachen besonders vor, damit die Begabten nicht durch sie zurückbleiben.

Rudolf Steiner: Newton, Helmholtz, Julius Robert Mayer würden in einem solchen Falle immer unter den Schwachen gesessen haben.

A.: Das schadet ja nichts.

Rudolf Steiner: Gewiß, das schadet nichts. Sogar Schiller würde unter den Schwachen gesessen haben. Nach dem Lehrbefähigungszeugnis für Robert Hamerling war er verhältnismäßig überall mit guten Zensuren bedacht, nur nicht im deutschen Aufsatz. Da hatte er als Zensur eigentlich unter normal.

Seminarbesprechungen

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R. fragt, ob man Zeugnisse geben soll.

Rudolf Steiner: Solange die Kinder in derselben Schule sind wozu soll man da Zeugnisse geben? Geben Sie sie dann, wenn die Kinder abgehen. Es ist ja nicht von einer tiefgehenden pädagogischen Bedeutung, neue Zensuren auszusinnen. Zensuren unter die einzelnen Arbeiten wären ganz frei zu geben, ohne bestimmtes Schema.

Die Mitteilung an die Eltern ist ja unter Umständen auch etwas wie eine Zensur, aber das wird sich nicht ganz vermeiden lassen. Wie es auch z.B. als notwendig sich herausstellen kann – was wir natürlich mit einer gewissen anderen Note behandeln würden, als es gewöhnlich behandelt wird – daß ein Schüler länger auf einer Stufe bleiben muß; das müssen wir natürlich dann auch machen. Wir werden es ja tunlichst vermeiden können durch unsere Methode. Denn wenn wir den praktischen Grundsatz verfolgen, womöglich so zu verbessern, daß der Schüler durch die Verbesserung etwas hat – also wenn wir ihn rechnen lassen, weniger Wert darauf legen, daß er etwas nicht kann im Rechnen, sondern darauf, daß wir ihn dazu bringen, daß er es nachher kann – wenn wir also das dem bisherigen ganz entgegengesetzte Prinzip verfolgen, dann wird das Nichtkönnen nicht mehr eine so große Rolle spielen, als es jetzt spielt. Es würde also im ganzen Unterricht die Beurteilungssucht, die der Lehrer sich dadurch anerzieht, daß er jeden Tag Noten ins Notizbuch notiert, umgedreht werden in den Versuch, in jedem Momente dem Schüler immer wieder und wiederum zu helfen und gar keine Beurteilung an die Stelle zu setzen: Der Lehrer müsste sich ebenso eine schlechte Note geben wie dem Schüler wenn der etwas noch nicht kann, weil es ihm dann nur noch nicht gelungen ist, es ihm beizubringen.

Als Mitteilung an die Eltern als von der Aussenwelt gefordetes, können wir, wie gesagt, Zeugnisse figurieren lassen.

Da müssen wir uns schon an das halten, was üblich ist. Aber in der Schule müssen wir durchaus die Stimmung geltend machen, dass das eben für uns nicht in erster Linie eine Bedeutung hat. Diese Stimmung müssen wir verbreiten wie eine moralische Atmosphäre.