Rettung der Kindheit

Memorandum für eine elementare Handlungspädagogik

Peter Guttenhöfer 2011

Auf unserer schönen Erde ist die Natur in Gefahr. Pflanzen und Tiere verlassen den Planeten,

und vom Klima sprechen alle.

Aber noch etwas ist in Gefahr: die Kindheit.

In allen Ländern der Welt verstärkt sich der Druck auf die Kinder: Immer frühere Einschulung, staatliches Curriculum für die ersten 10 Lebensjahre, Lesenlernen mit 3 Jahren, Verschärfung der Konkurrenz unter den Kindern, Prüfungen, intellektualisierter Unterricht, wenig Bewegung, keine Kunst, kein Spiel.

Zu Hause: Zerbrechende Familien, gestresste Eltern, Arbeitslosigkeit, Armut, die Kinder alleingelassen vor dem Bildschirm, Computerspiele. Auch die Kinder der Reichen sind arm!

Lasst uns das Nötigste für die Erhaltung der Kindheit tun! Schenken wir unseren Kindern wenigstens 10 Jahre Kindheit. Nur dann werden sie als erwachsene Menschen Phantasiekraft genug haben, das Leben auf der Erde neu und besser zu gestalten als wir. Denn es geht um die Erde, um die Jugendkräfte der Erde.

„Schule“ muss neu gedacht werden! Schule, in der die Kinder so leben, spielen und arbeiten können, dass ihre natürliche Imaginationsfähigkeit sich in schöpferische Phantasie umwandeln kann. In der sie ohne Druck und Angst leben können, so dass sie sogar beim Lernen glücklich sind und gesund werden.

1. Gefährdung der Kindheit durch Schule

Die Zivilisation, die von Westeuropa aus in den letzten Jahrhunderten die ganze Menschheit ergriffen hat, ist kindheitsfeindlich. Das Leben in den Städten zeigt es in aller Schärfe: Jede unbeaufsichtigte Bewegung eines Kindes ist lebensgefährlich. Spielen ist verboten. Der Maßstab aller Dinge ist die ungehinderte individuelle Selbstverwirklichung des erwachsenen Menschen in den materiellen Bedingungen des Erdendaseins. Kindheit und Alter sind nichts anderes als lästige, unvermeidbare Nebenwirkungen.

Kindheit soll genutzt werden. Bei den ersten Anzeichen eines Vorstellungsvermögens des Kindes greift die staatliche Organisation zu: Mit der Schulpflicht. Weltweit zeigt sich die Tendenz, den obligatorischen Schulbesuch bis an den Beginn des fünften Lebensjahres vorzuverlegen. Wirtschaftliches Kosten-Nutzen-Denken steuert die Bildungsprozesse, sowohl organisatorisch als auch inhaltlich. In den meisten Ländern der Welt sind die Lehrer notorisch unterbezahlt; zu dem Unglück der Kinder kommt also das Unglück der Lehrer hinzu. Das trägt zu der prinzipiellen Antipathie zwischen Lehrern und Schülern bei.

Noch immer wird das Kind als Objekt der Sozialisierung betrachtet, nicht als Subjekt seiner Selbsterziehung. Es wird noch nicht als Träger seines Rechts auf freie Erziehung und Entwicklung anerkannt, sondern als Träger der Pflicht zum Schulbesuch. In Wahrheit liegt die Pflicht auf Seiten der Erwachsenen; das Kind tritt mit der Geburt in seine Rechte ein. Die

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1989 von fast allen Staaten der Erde unterzeichnete UN-Kinderrechts-Konvention ist ein Ausdruck dieses neuen Bewusstseins; der Verwirklichung der darin formulierten Ideale

können wir uns aber nur nähern, wenn wir in vollem Ernst erkennen, was Janusz Korczak gesagt hat: „Das Kind wird nicht erst ein Mensch, es ist ein Mensch!“ 

Die gegenwärtige Missbrauchs-Diskussion hat ans Licht gebracht, dass in den hässlichen Einzelphänomenen eine tiefere Lebensschicht an die Oberfläche tritt, in der ungeläutertes Triebleben und Eigensucht mit dem Grundtrieb unserer modernen Zivilisation, von allem Besitz ergreifen zu müssen, eine gefährliche Mischung bilden. Auswirkungen dieser Tiefenschicht sind u. a. die weltweit verbreitete Gewaltpädagogik, der Stil der Schulbauten, die Bewegungsfeindlichkeit der Unterrichtspläne, mit einem Wort: Die normale Tagesordnung von „Schule“.

Das Kind als Subjekt seiner Selbsterziehung anzuerkennen, ist schwer genug, ist aber als Idee endlich in der Menschheit angekommen. Ein nächster Schritt der Umwandlung, dessen Richtung sich aus dem folgenden Satz Rudolf Steiners ergibt, ist notwendig: „Jede Erziehung ist Selbsterziehung, und wir sind eigentlich als Lehrer und Erzieher nur die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes.“ Diese Umgebung den Anforderungen einer fruchtbaren Entwicklung des Kindes entsprechend zu gestalten, würde für die Erwachsenen eine tiefgreifende Umwandlung ihrer Denk- und Lebensgewohnheiten bedeuten. Die Zivilisation müsste von den Fundamenten her umgestaltet werden.

Ausgangspunkt ist der Grundsatz: Lehrer und Kind arbeiten und lernen gemeinsam. Die Kinder unserer Zeit akzeptieren nicht mehr den Pauker, sowenig wie sie akzeptieren können, dass sie durch Unterrichtsplan und Schulzimmer ganztags vom eigentlichen Leben isoliert werden. Im besten – oder schlimmsten – Falle beugen sie sich. Vom 12. Lebensjahr an beginnen sie sich zu wehren. Die Probleme, die damit auftreten, werden von den Erziehenden Disziplinprobleme genannt. Die Wahrheit ist, dass das Kind seiner Natur nach tätig sein will, Schule der heutigen Art aber produktives Tätigsein der Kinder verhindert.

Der Wille des Kindes ist auf Tätigkeit aus; Lehrer und Erzieher beziehen von daher das Programm ihrer eigenen Selbsterziehung. Die von Rudolf Steiner begründete Waldorf-Pädagogik baut ursprünglich darauf, dass der Lehrer ein Lernender und nicht unbedingt der akademisch ausgebildete Fachpädagoge ist. Heute können wir hinzufügen: Der Lehrer muss ein Arbeitender sein. Anders gewendet: Warum sind die beiden produktiv arbeitenden Menschentypen, der Landwirt und der Handwerker, heute aus dem erzieherischen Prozess ausgeschieden? Der typische heutige Lehrer ist ja ein Mensch, der auf Kosten der Gemeinschaft von der produktiven Arbeit befreit wird, um sich ganz der Unterrichtung der Kinder widmen zu können. Auch die Kinder selbst sind von aller Arbeit losgelöst, um für das Lernen frei zu sein. Dieser Zustand soll sich in den derzeit wohlhabenden Ländern der Welt idealerweise bis zum 25. oder gar 30. Lebensjahr erstrecken. Dass die Volkswirtschaften das nicht tragen können, wird langsam sichtbar. Dass es vor allem zum Ruin der Erde beiträgt, ist erst wenigen Menschen deutlich geworden.

„Schule“ heute ist also das Ergebnis der mitteleuropäischen Kulturprozesse der letzten 250 Jahre, die auf Zersplitterung der Lebensvorgänge hinausgelaufen sind. Die Zersplitterung macht sich besonders schmerzhaft darin geltend, dass Arbeit und Lernen, Spiel und Arbeit,

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Handwerk und Bildung, Kindheit und Industriegesellschaft, Stadtzivilisation und Landkultur usw. völlig auseinandergefallen sind. Schule ist heute ein Ort, wo das Kind dem Leben entfremdet wird. Ihre Veranstaltungen sind künstlich, und die sogenannte „Motivation“ der Schüler ist oft nichts anderes als ihre Nötigung durch die Abschlüsse und das daran gebundene Berechtigungswesen. Das ist kindheitsfeindlich, denn das Kind ist ein Gegenwartswesen, das seinen Daseinssinn unmittelbar geistig-sinnlich erfährt und nicht einer vorgestellten Zukunft und irgendwelchen Vorstellungen von Kompetenzerwerb entnimmt.

2. Umwandlung von Schule

Wie muss „Schule“ also sein, wenn sie eine dem heutigen Kind gemäße Umgebung darstellen will? Novalis hat in seinem Fragment PAEDAGOGIK die Richtung gewiesen:

Erziehung von Kindern, wie Bildung eines Lehrlings – nicht durch directe Erziehung – sondern durch allmäliches Theilnehmen lassen an Beschäftigungen etc. der Erwachsenen.“

Die erziehenden Erwachsenen müssen beschäftigt sein! Und zwar nicht mit direkter Erziehung von Kindern, sondern mit den das Leben begründenden und gestaltenden Beschäftigungen. Dazu gehören natürlich auch Schreiben, Lesen, Rechnen und Singen. Und wie lernt der „Lehrling“? Im ersten Jahrsiebt durch Nachahmung, im zweiten durch Nachmachen. Hiermit entstehen Bilder von sinnvoll beschäftigten Erwachsenen, deren Beschäftigungen nachahmenswert sind und die auch nachgeahmt, bzw. nachgemacht werden können, weil sie sich in sichtbaren Handlungen, in vernunftgeführten Bewegungen ihrer Arme und Beine ausdrücken. Und das Genie des Kindes, das in dem Umkreis dieser Beschäftigungen mitlebt, besteht darin, durch die nachahmende und nachmachende Tätigkeit seine Selbsterziehung zu praktizieren. Das nennen wir Spiel.

Nachzuahmende Beschäftigungen liegen vor allem in den Bereichen von Land- und Gartenbau, Handwerk und Hauswirtschaft, also in jenen Bereichen, in denen durch Substanzumwandlung die elementaren „Lebensmittel“ geschaffen werden und die unglückseligerweise in dem Erziehungsfeld „Schule“ nicht zur Wirkung gekommen sind. Rudolf Steiner hat sie schon ansatzweise in den pädagogischen Raum hereingeholt; das macht heute eine der Besonderheiten der Waldorfpädagogik aus. Gerade in diesen Bereichen aber kommt der jetzigen Menschheit schärfer und schärfer zum Bewusstsein, dass reduktionistische Weltauffassung und egoistisches Profitstreben zur Zerstörung unserer Lebensgrundlagen führen. Das erkennen wir an den katastrophalen Auswirkungen der industrialisierten Landwirtschaft für die Böden und Landschaften, die Bienen, die Qualität der Nahrungsmittel usw., das zeigt uns die Qual unserer Tiere, das Sterben der Wälder.

Zerstörung der Ökosysteme und Gefahren des Klimawandels wecken uns heute auf und fordern neues Handeln. Hier schließen sich die Ideen zusammen: Die Erwachsenen wenden sich der Erde wieder zu, nehmen Abschied von Profitsteigerung und Massentierhaltung; die Achtung vor den Mitgeschöpfen, die uns zu dienen bereit sind, wird handlungsleitend. Und sie nehmen die Kinder mit! Sie schließen sie nicht weg in Kindergärten, Horten, Schulstuben, sondern sie arbeiten mit ihnen zusammen, die Kleinen spielend, die Größeren allmählich an den Beschäftigungen der Erwachsenen teilnehmend, wie Novalis geschrieben hat. Da spüren wir das Bedürfnis nach einem neuen „curriculum“; wir sehen eine neue Bewertung der Fächer nach Haupt- und Nebenfächern, da werden die weltweit heiligen Kühe Muttersprachliche Richtigkeit, Nationalliteratur und Mathematik in den gleichen Rang gestellt mit neuen Hauptfächern wie Gartenbau und Handwerken.

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Idealer Ort für eine solche Erziehungsumgebung wäre natürlich der landwirtschaftliche Hof. Er müsste allerdings tiefgreifend um- und neugestaltet werden, wenn er eine „vollständige

Umgebung“ (Goethe, Pädagogische Provinz) für das sich selbst erziehende Kind darstellen und zugleich die auf ihm lebenden und arbeitenden Menschen ernähren soll.* Es ist also nicht gemeint der „Schulbauernhof“, sondern eine Gemeinschaft von arbeitenden Menschen, die sich durch biologisch-dynamische Landbaukultur der Wiedergewinnung der Jugendkräfte der Erde widmen wollen. Also nicht direkte Erziehung des Kindes, von der Novalis abrät, sondern Hereinnehmen des Kindes in dieses Tätigkeitsmilieu, Mitlebenlassen des Kindes in dem Willensstrom der Erwachsenen. Und die „Schulstube“ gehört mit hinein in dieses Milieu, allerdings in verwandelter Form. Außen- und Innenräume ergeben zusammen eine vollständige Umgebung. Wie das im Einzelnen gestaltet werden kann, hängt von zahlreichen jeweiligen Bedingungen ab und kann hier nicht diskutiert werden

Es ist deutlich, dass hiermit nur in eine bestimmte Richtung gewiesen werden soll, in der das Ideal zu ahnen und zu suchen wäre. Es wäre aber ein Ausdruck von Wirklichkeitsblindheit, zu erwarten, dass der biologisch-dynamische Landbau auch noch die Pädagogik retten könne.

Zwei Gedanken führen uns weiter:

    1. „Hof“ wäre zwar eine ideale Umgebung, ist aber nicht Bedingung. „Schule“ hat sich ja vor allem in städtischem Milieu entwickelt, muss also im wesentlichen innerhalb der Stadtzivilisation verwandelt werden. Stadtzivilisation aber muss, wie gesagt, selbst ganz und gar umgestaltet werden, was nur durch eine vollkommen neue Art von Erziehung der Kinder und sicherlich nur in einem jahrzehnte- oder gar jahrhundertlangen Prozess gelingen kann.

     2. Unter den derzeitigen politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen der meisten Staaten der Erde ist an einen wirksamen Wechsel des pädagogischen Paradigmas nur zu denken, wenn man bereit ist, die Umwandlung von „Schule“ in einen Lernort, an dem die Kinder zu wirklicher Zukunftstüchtigkeit heranwachsen, zunächst in kleinem Maßstab vorzustellen.

3. Small is Beautiful

Was der Mensch in seinen ersten Jahren lernt – und wie er es lernt – , ist für die Gestaltung des Lebenslaufes von besonderer Wichtigkeit. Wir wollen hier die ersten drei Lebensjahre unberücksichtigt lassen, da wir jedem Kind auf Erden wünschen, wenigstens diese erste Lebenszeit in der Obhut einer Familie aufwachsen zu dürfen. Dass dieser Wunsch für hunderttausende von Kindern nicht in Erfüllung geht, eröffnet ein weiteres Problemfeld, das aber in dem Zusammenhang dieser Überlegungen nicht auch bearbeitet werden kann. Es geht hier darum, das Bild eines Lernorts zu entwerfen, wo das Kind vom 4. bis zum 10. Lebensjahr leben, lernen und gedeihen kann, eine Skizze von „Schule“, in der drei Jahre Kindergarten-Periode und vier Jahre „Schulzeit“ ein Kontinuum von sieben Jahren bilden. Am Ende dieser Entwicklungsphase hat das Kind ein Stadium erreicht, wo es im Sinne der modernen Salutogenese-Forschung über eine elementare „Grundausstattung“ mit den Fähigkeiten der Kohärenz (seelisches Verbundensein mit der Welt) und der Resilienz (Kraft zum Bejahen

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*Eine solche tiefgreifende Neugestaltung von Landwirtschaft in Hinblick auf gesunde Ernährung, ökologische Nachhaltigkeit, Privatbesitz an Boden, Technisierung, Vermarktungsformen etc. wurde ja durch die weltweite Bewegung des biologisch-dynamischen Landbaus begonnen. Das Streben nach zeitgemäßen Gemeinschaftsformen findet u. a. seinen Ausdruck in CSA (Community Supported Agriculture).

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und Meistern von Widerständen) verfügt. Das Kind hat sich zu diesem Zeitpunkt, der in der anthroposophischen Anthropologie mit dem bildhaften Ausdruck „Rubikon“ bezeichnet wird,         gewissermaßen seine individuelle biologische, seelische und geistige Gesundheit aufgebaut, die ihm die Kraftquelle dafür sein wird, die Krisen der folgenden Jahre und des Lebens überhaupt zu bestehen.

Wenn sich das Kind also wenigstens bis zu dem gekennzeichneten Zeitpunkt in einer Atmosphäre entwickelt, die „die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“, wie sie das Grundgesetz fordert, zulässt und ermöglicht, so ist es für die kommenden Herausforderungen gerüstet. Innerhalb der Phase, die drei Kindergartenjahre und vier „Schuljahre“ umfasst, müssen die Lernprozesse noch nicht durch staatliche Leistungsnormen gesteuert werden; denkbar ist, dass die Kinder im 4.“Schuljahr“ in ihrer Leistungsstruktur durch angemessene Vorbereitung an die jeweils staatlichen Normen angepasst werden, damit sie dann möglichst problemlos in irgendeine Schule, die angeboten wird, überwechseln können. (In vielen Ländern gibt es sogar die Möglichkeit des „home schooling“ für die Grundschulperiode.) Mindestens die ersten drei Jahre der „Schulzeit“ könnten also ganz frei gestaltet werden, die drei Jahre vor der Schulreife ohnehin.

Die 7-jährige Periode, die wir hier ins Auge fassen, wäre demnach rein nach entwicklungspsychologischen und pädagogischen Gesichtspunkten einzurichten. Besonders in der Übergangzeit vom Kindergarten zur „Schulzeit“ können individuelle Entwicklungsbesonderheiten einzelner Kinder berücksichtigt werden; damit wäre eine Struktur geschaffen, durch die die Probleme der Früheinschulung, die ja rund um die Welt forciert wird, zumindest etwas abgemildert werden können. Der geforderten Schulpflicht wird Genüge getan, die pädagogischen Maßnahmen im Einzelnen aber sind frei bestimmbar.

An vielen Orten der Erde, wo die sozialen, ökonomischen oder kulturellen Bedingungen für den Aufbau eines staatlichen, vielleicht sogar mehrgliedrigen Schulsystems ungünstig sind, wären solche kleinen „Schulen“ mit relativ geringen Mitteln einzurichten: Nicht alle Erzieher- und Lehrkräfte müssen eine akademische Ausbildung durchlaufen haben; zum Teil ganz andere Kompetenzen als die an  Universitäten oder Lehrerseminaren zu erwerbenden sind gefragt. Es ist nicht zu denken an große kostenträchtige Schulbauten; kein großes Kollegium, das bis zur Erschöpfung mit seinen zeitgemäßen gruppendynamischen Konflikten ringt, Finanzierung, Organisation und Verwaltung bleiben überschaubar etc. Mit einem Wort: Small is Beautiful – nach dem weltberühmten Titel von E. F. Schumachers Buch von 1973.

In manchen Ländern – vorwiegend der Südhalbkugel – setzt die heutige Bildungspolitik fort, was der überwunden geglaubte Kolonialismus tat: Implantierung europäisch/amerikanischer Denk- und Lebensart in die jungen Seelen der politisch zwar befreiten, aber oftmals in ihrer Identität schwer erschütterten  Völker. Die Eliten solcher Völker schicken ihre Kinder auf International Schools oder in die Internate ihrer vormaligen „Herren“; die Grundschulen aber werden denkbar ungenügend ausgestattet und gestalten ihre Unterrichtsinhalte vielfach nach Maßgaben europäischer Schulpläne, die bekanntlich ihren „heimlichen Lehrplan“ mittransportieren, dessen weltanschauliche Prägung oft ebenso weit entfernt ist von moderner wissenschaftlicher Erkenntnis wie von dem noch lebendigen Weisheitsgut der noch traditionell geführten Völker. Ein Beitrag zur Gewinnung einer neuen Identität ist nur möglich durch Besinnung auf die eigenen kulturellen und religiösen Wurzeln, auf die eigene Sprache, auf die umgebende Landschaft etc. Das aber ist unter den heutigen Umständen nur denkbar für die ersten Jahre eines Schulbesuchs, weil zu starke Konflikte mit den Bildungsautoritäten

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des jeweiligen Landes vermieden werden müssen. Denn in den höheren Schuljahren geht es zunehmend um Anpassung der Schüler an das gegenwärtig gültige Sozialsystem der Gesellschaft, in das sie hineinwachsen sollen. Dafür haben die Behörden zu sorgen. Auch dieser Gedanke spricht dafür, das Bild einer kleinen Schule zu entwerfen.

4. Basic School

In den 7 Jahren geht es um die Ermöglichung von Kindheit, den Aufbau der individuellen Gesundheit, die Grundlegung einer allgemeinen Bildung und das Erüben von Arbeit. Die Waldorfpädagogik, die sich seit 90 Jahren rund um die Erde ausbreitet, arbeitet, von der anthroposophischen Menschenkunde Rudolf Steiners ausgehend, an den anthropologischen  und methodischen Grundlagen für diese Aufgabenstellung. Neben der Intelligenzentwicklung und der Gemütsentfaltung des Kindes wird der Ausbildung seines Willens besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Im Sinne der hier vertretenen elementaren Handlungspädagogik aber zeigt auch die Waldorfschule ihre Entwicklungsbedürftigkeit. Mit Blick auf die Not der Kinder und geleitet von der Frage: „Was müssen die Kinder von heute in 30 Jahren können?“  stellen sich uns Aufgaben in der Richtung, die im Abschnitt 2 dargestellt ist. Unterrichtsinhalte und  –methoden der Mittel- und Oberstufen zu verändern, stößt auf größte Schwierigkeiten, die angedeutet wurden; die ersten vier Schuljahre und die Kindergartenzeit sind, wie dargelegt, am ehesten modifizierbar.

Die volle Schönheit und Tiefe der Waldorfpädagogik entfaltet sich schon in den ersten 4 Schuljahren; Spiel und Arbeit gehen fließend ineinander über, die Weltinhalte offenbaren sich in Bildern, Kinder und Lehrer arbeiten zusammen an der Bildung einer Schicksalsgemeinschaft, in der nicht Konkurrenz herrscht, sondern gegenseitige Hilfeleistung geübt wird. Überall in den 6. Klassen beginnen neue Probleme, weil das Verhältnis des Kindes zur Welt und zum anderen Menschen sich im 12. Lebensjahr konstitutionell ändert. Basic School könnte also auch in die 5. Klasse hinein verlängert werden, je nach Bedingungen und Möglichkeiten des Ortes und der Menschen; für die Arbeit im 6. Schuljahr aber wären ganz neue didaktische und methodische Leitlinien bestimmend. Aus diesem Grunde wird Basic School auf 4, höchstens 5 Schuljahre begrenzt gedacht; zu der Ganzheit dieser Schulform gehören, wie gesagt, die drei vorausgehenden Jahre der Kindergartenzeit, also 7 bzw.8 Jahre insgesamt.

Wir haben also das Bild einer Minimalform von „Schule“ vor Augen, die ein ganzheitliches pädagogisches Angebot für Kinder zwischen 4 und 10 Jahren darstellt. Es handelt sich nicht um das Bruchstück einer richtigen Schule, um „nur“ die Unterstufe, sondern um eine vollständige Einrichtung, d.h. die Bereitstellung eines Lernorts für Kinder des genannten Alters. Ein solcher kann mit relativ geringem Aufwand an Kräften und Kosten gestaltet werden; die Verantwortung für einen möglichen weiteren Bildungsgang des einzelnen Kindes kann nur in die Hände derer gelegt werden, die die Mittel dafür aufbringen. Um diese Gestalt von Basic School denken zu können, muss man das Ideal der 12jährigen Waldorfschule loslassen und sich darauf besinnen, welche Kräfte und Kompetenzen in der sich zuspitzenden Krise der Kindheit überhaupt zur Verfügung stehen. Die kleinen „Schulen“ werden die Keime sein können für völlig neue Lernorte, zu deren detaillierter Vorstellung uns heute die Phantasie noch fehlt. Wir wollen Rettungsinseln schaffen für die Kindheit und damit für die Phantasiefähigkeit der Menschheit.